Frohes Fest!
die Lichter aus. Sie war wie eine Schlafwandlerin. Es klingelte an der Haustür.
»Das ist Harald«, sagte Tante Helga. »Laß ihn herein!«
Sie stürzte sich ihm im Flur entgegen, nach Atem ringend.
»Aber, aber«, sagte er. »Wieso bist du so durchgefroren? Was hat dich so durcheinandergebracht, Lucy?«
Er legte seinen Mantel und seine Bücher in der Bibliothek ab, wo er schlief. Dann führte er sie in die angewärmte Stube und setzte sie auf’s Sofa.
»Was ist denn los?«
»Was ist das für eine traurige Geschichte über jemanden, der vom Dach gefallen ist?«
Harald trug immer noch seine Aktentasche bei sich. Jetzt zog er eine Flasche Coca-Cola daraus hervor und einen Öffner. Lucy stürzte sie hinunter, als ob es das Elixier des Lebens sei.
»Es ist eine traurige Geschichte«, sagte Harald, »und außerdem geheimnisvoll. Wir sind noch nicht einmal sicher, daß er wirklich vom Dach gefallen ist. Und wenn ja, hat keiner auch nur die geringste Vorstellung, was er da gemacht hat. Jetzt wird es häßlich …«
Er nahm einen Schluck von der Cola.
»Siehst du, er wurde nicht gefunden. Papa war mit Helga in seinem Wohnsitz am See. Ich war in Theresienstadt. Erst 1944 kam der alte Schultz, der hier früher immer ein paar Gärtnerarbeiten erledigt hat, auf der Suche nach Feuerholz hierher. Er fand ihn dort liegend. Er war schon seit Jahren tot. Sein Genick war gebrochen.«
»Aber wer um alles in der Welt war es?«
»Habe ich das nicht gesagt? Es war der arme junge Stein. Solomon Stein, Frau Rothmeiers Bruder. Sie stahl sich manchmal nach draußen, um ihn zu treffen.«
»Aber sicher hat doch jemand gemerkt, daß er verschwunden war!«
»Bestimmt haben sie das«, sagte Harald bitter. »Er stand auf irgendeiner Deportationsliste, die letzte Aushebung stand bevor. Seine Familie war schon lange fort.«
»Er hat versucht, im Haus unterzukriechen«, sagte Lucy fest.
»Möglich.«
»Er ist vom Dach gefallen«, sagte sie und beobachtete Harald dabei genau. »Ich habe die Geräusche gehört, und ich habe ihn fallen sehen.«
Harald schüttelte den Kopf.
»Du bist genauso schlimm wie Papa und seine Alpträume!« sagte er.
Sie erkannte, daß sie an eine Grenze gelangt war, die er nicht überschreiten konnte; er kämpfte nicht mit seiner Ungläubigkeit, sondern mit ihrer Unvernunft.
Eine Stimme rief freudig:
»Kinder! Helga!«
Vicki rief; sie ging langsam, majestätisch die Treppe hinunter, Arm in Arm mit August. Papa tat zur Feier des Tages etwas ganz Außergewöhnliches, er durchbrach für sie alle seine gewohnte Routine. Die Reaktion erfolgte augenblicklich: Helga kam mit einer Flasche Wein, Harald heizte den Ofen an. Alle sprachen gleichzeitig und drängten in die Stube. Die Adventskerze wurde wieder angezündet, das Radio angedreht, und es wurde gerade ein Walzer von Strauß gespielt. War es ›Morgenblätter‹? ›Wein, Weib und Gesang‹?
»Falsch«, rief August. »Es ist ›Künstlerleben‹!«
Aber wo war Jo? Lucy rannte drei Treppen hoch und sah in sein Schlafzimmer. Im schwachen Licht der Nachttischlampe lag er zusammengerollt auf seinem Bett und schlief fest. Sein Gesicht hatte eine ungesund blasse Farbe, seine Stirn war feucht. Seine Hände lagen mit den Handflächen nach oben, staubverschmutzt, der gleiche dicke Staub, der an den Aufschlägen seiner Hose haftete. Sie weckte ihn mit heftigem Schütteln.
»Jo! Jo! Papa ist unten!«
Jo sah sie an mit Augen, die nichts sahen, schwarze, glänzende Teiche. Er war immer schwer zu wecken.
»Bist du in Ordnung?«
»Ich habe mich übergeben«, sagte er.
»Papa ist unten. Willst Du krank sein oder runterkommen?«
Er schwang sich vom Bett, und sie folgte ihm in das widerhallende Badezimmer. Er wusch sich Gesicht und Hände in kaltem Wasser und starrte in den Spiegel. Lucy war ungeduldig und verängstigt. Er war nur ihr kleiner Bruder, aber wen hätte sie noch, wenn er sich davonstahl?
Sie gingen hinunter ins Herz der Familie. August war in Hochform und tat ungeniert reihum jedem seiner Kinder schön. Wie sie lachten. Wie Lucy rot wurde. Wie Haralds herbe Witze von einem Ende des Zimmers zum anderen sprühten. Mutti saß auf der Armlehne von Papas großem Ledersessel. Über dem Kamin hing ein großes Aquarell eines Mädchens mit sanftem Gesicht in einem grünen Kleid, das mit dem blumigen Hintergrund eines Obstgartens verschmolz. Es war Nina, die erste Frau, Mutter der armen Roswitha und Haralds. Sie war Helgas Schulfreundin gewesen.
Helga wurde
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