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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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als Spielhaus«, seufzte Jo.
    Um fünf Uhr gingen sie zum Essen ins Eßzimmer; es gab Roggenbrot, Margarine, Pflaumenmus, Mettwurst und scheußlichen, sauren Pflaumenkuchen, der mit halbrohen Pflaumen belegt war. Mutti entzündete die erste Kerze auf dem Adventskranz aus Tanne und Fichte, der mit vergoldeten Zapfen geschmückt war. Außer Wasser gab es für Lucy und Jo nichts, was sie trinken mochten. Sie versuchten widerlichen Pfefferminztee und ungekühlte Magermilch. Jo sprach sehnsüchtig vom Erntedankfest und Tante Helga fragte, Dank wofür? Um halb sechs rief Tante Helga:
    »Geh nach oben, kleine Vicki … er wird warten!«
    Vicki trug ihrem Mann ein Tablett hinauf. Als Jo zu folgen versuchte, hielt Tante Helga ihn mit ihren Händen auf seinen Schultern in seinem Stuhl fest.
    »Sei still!« sagte sie. »Das mußt du verstehen. Es ist ihre Zeit zusammen.«
    »Dürfen wir auch Zeit mit unserem Vater verbringen?« fragte Lucy.
    Die Ironie entging Helga völlig. Sie lächelte wohlwollend.
    »Ich habe nachgedacht«, sagte sie. »Es könnte euch gestattet werden, August auf seinem Spaziergang zu begleiten.«
    »Gestattet?« rief Jo. »Bist du verrückt? Du bist nicht meine Eltern … er ist es!«
    Tante Helga schlug Jo ins Gesicht. Lucy, von augenblicklicher Stärke erfüllt, wie Superman, sprang von ihrem Platz auf, schubste ihre Tante zur Seite und stellte sich schützend vor ihren Bruder.
    »Wie kannst du es wagen!« brüllte sie. »Mutti, Papa! Sie hat Jo ins Gesicht geschlagen!«
    Niemand kam oder stellte Fragen, das Eßzimmer war vom Arbeitszimmer weit entfernt. Tante Helga sank auf ihren Stuhl und brach in Tränen aus. Jo sprang wütend auf und stapfte aus dem Zimmer.
    »Ich hätte den Jungen nicht schlagen dürfen«, sagte Tante Helga und wandte sich mit einem schrecklichen, tränenverschmierten Gesicht Lucy zu. »Luisa, liebes Kind, es war so schwierig, für deinen Vater zu sorgen. Ihm Bedingungen zu schaffen, unter denen er arbeiten konnte, ihn vor Störungen zu schützen.«
    »Jo wird zu Papa und Mutti gehen«, sagte Lucy.
    »Oh, August wird ihn wegschicken«, sagte Tante Helga. »Das ist die Zeit, die er immer mit der kleinen Vicki allein verbringt.«
    Sie trank in kleinen Schlucken von ihrem Pfefferminztee und sagte:
    »Ich bin fast gestorben bei der Verhaftung. August war so tapfer. Wir hatten einen Hinweis bekommen, wir waren immer gut informiert. Er ging den Weg hinunter und trug seinen Hut und Mantel. Er wollte sie nicht im Haus haben.«
    »Wer hat ihn abgeholt?« fragte Lucy. »Wie sahen sie aus?«
    »Zwei Männer in weichen Hüten und Regenmänteln«, sagte Tante Helga. »August sagte zu mir, ›Was für ein Klischee …‹. Wir hatten Flüchtlinge im Haus, er opferte sich für sie. Er sprach mit den Männern, ich war an der Haustür postiert, Frau Rothmeier und die Kinder waren in den hinteren Garten geflüchtet, dann durch die Hecke auf den Friedhof. Keiner würde dort, unter den alten Bäumen, suchen. Wir machten das bei jedem ernsthaften Alarm, aber im Winter war es schwieriger.«
    Frau Füller Krantz weinte wieder, ihr Gesicht war zerknittert.
    »Ach Luisa, es war so schrecklich …«
    »Bitte, bitte nicht weinen«, sagte Lucy so warm und mitfühlend wie sie konnte. »Papa geht es gut. Wir sind alle hier.«
    »Ich wartete sechsunddreißig Stunden lang im Präsidium in Darmstadt«, sagte Tante Helga. »Ging in einem großen Geschäft auf die Damentoilette und wusch mir Gesicht und Hände. Aß ein Brötchen und trank Kaffee. Ich kehrte mit dem Bus hierher in dieses Haus zurück, und es gelang mir, telefonisch einen amerikanischen Geschäftsmann in Berlin, Mr. Walker, zu erreichen. Um Geheimhaltung habe ich mich nicht gekümmert, ich habe geradeheraus gesagt: »August Füller wurde verhaftet.« Ich legte mich, so wie ich war, ein paar Stunden hin, ließ mich aber von Frau Rothmeier wecken. Ich zog mich um und fuhr mit dem Fahrrad in Breitbach herum, zur Polizei, zum Rathaus, zu einem sehr kultivierten Mann von der Gewerkschaft, einem Parteiintellektuellen, der eine Villa auf dem Steinberg hatte. Ich möchte gerne glauben, daß das alles geholfen hat. Nach drei Tagen war August frei. Es war in dieser Zeit, im Herbst ‘41, daß wir beschlossen, nach Schleswig-Holstein zu gehen, in die kleine Hütte am Mariensee.«
    »Du hast Papa gerettet«, sagte Lucy. »Du warst sehr tapfer, Tante Helga.«
    Endlich lächelte ihre Tante. Sie saßen schweigend da, bevor sie den Tisch abräumten. Draußen war es

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