Frohes Fest!
schließlich überredet, sich ans Klavier zu setzen, obwohl sie einwandte, daß es gestimmt werden müßte. Sie begann mit ›Stille Nacht, Heilige Nacht‹; alle sangen mit, langsam, zögernd. Jos wunderschöner, ungebrochener Alt erhob sich neben Augusts feinem, leichten Bariton und Helgas ausgebildeten Sopran. Nach dem ersten Vers hielten sie inne, verblüfft. Vicki begann zu weinen.
»Es ist vorbei«, sagte August, »endlich ist wirklich alles vorbei. Wir sind alle wieder zusammen. Wir können beginnen zu leben.«
Lucy wurde von Mitleid überwältigt. Die Ärmsten, dachte sie, die Ärmsten. Tante Helga ging zu ›O Tannenbaum‹ über, und Harald rief: »Na wenn das kein gutes Lied ist!« Dann, berauscht von der Wärme und dem Wein und der Weihnachtsmusik, sangen sie noch fröhlich ›Alle Jahre wieder kommt das Christuskind‹ und ›Kling, Glöckchen, Klingelingeling‹, wobei Jo das Solo übernahm, in dem das Christuskind darum bittet, aus der Kälte hereingelassen zu werden. Lucy und Jo und Mutti begannen a capella mit ›White Christmas‹ und ›Away in a Mangen, aber Tante Helga fiel bald ein. Nach ein paar Takten konnte sie es improvisieren.
In einer Erfrischungspause nach einer Reihe von Weihnachtsmannliedern sagte Jo:
»Tante Helga, was ist mit meinem Spielzeugtiger?«
»Aber Jo«, sagte Mutti.
»Nein, ich brauche ihn«, sagte Jo. »Und dann gab es noch einen Teddybären und ein Holzpferd. Eine ganze Kiste voller Sachen, die wir nicht mitnehmen konnten.«
»Sei still!« sagte Mutti. »Ich nehme an, sie sind hier irgendwo.«
»Joachim, du bist ein großer Junge«, sagte Tante Helga. »Warum, um alles in der Welt, willst du diese alten Spielzeuge?«
»Ich will sie den Flüchtlingskindern geben«, sagte Jo und wurde dabei rot. »Wißt ihr, da war ein Aufruf in Radio.«
Alle waren belustigt, aber zustimmend. Alle außer Lucy, die wußte, daß Jo aus irgendeinem Grund höchst überzeugend log.
»Das ehrt dich, Joachim«, sagte Tante Helga mit leiser, vorsichtiger Stimme. »Die Spielzeuge sind weg. Sie wurden tatsächlich Flüchtlingskindern gegeben. Den kleinen Rothmeiers, die hier waren.«
Das versetzte dem Fest einen augenblicklichen Dämpfer. Harald sagte grimmig:
»Sie waren in Deutschland geboren und aufgewachsen und über Nacht wurden sie zu Flüchtlingen. Rosa und Benny Rothmeier und das Baby. Nicht einer unserer größten Erfolge.«
August geriet in Harnisch und stritt mit Harald, bis sie beide am Brüllen waren. Schlechte Organisation! Eine komplette Farce! Es war nichts daran zu ändern. Wollte er vielleicht Helga die Schuld geben? Frau Rothmeier selbst war für vieles verantwortlich. Es war ein Wunder, daß sie nicht alle im Gefängnis gelandet waren!
»Tante Helga«, rief Lucy, »du hast gesagt, sie wären gerettet worden, sie wären alle sicher nach Palästina gelangt!«
»Sag lieber ins gelobte Land«, meinte Harald, »arme kleine Teufel …«
»Ich habe dich angelogen Luisa«, sagte Tante Helga. »Es ist zu traurig.«
Die Familie Rothmeier war an der Stadtgrenze aufgelesen worden … verhaftet, während sie auf das Auto warteten, das sie zur Schweizer Grenze bringen sollte.
»Lieber Gott, was konnte ich tun?« sagte Tante Helga und rang die Hände. »Ich half Frau Rothmeier, ihnen die Mäntel zuzuknöpfen und die Schuhe anzuziehen. Am Abend, als ich gerade ein Dankgebet für ihre Rettung sprach, kam ein Anruf von Herrn Stein, dem Bruder. Das Auto hatte sich verspätet … er hatte gesehen, wie seine Schwester und die Kinder verhaftet wurden. Armer Kerl, ich glaube, das hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Am nächsten Tag bin ich abgereist, um mich um August zu kümmern. Meine Koffer waren gepackt … Es hatte Wochen gedauert, die notwendige Genehmigung zu bekommen.«
»Bist du sicher, daß die Rothmeiers alle … fort sind?« flüsterte Vicki. »Die Mutter und die drei kleinen Kinder?«
»Ich bin sicher!« sagte Harald barsch.
»Wir haben eine Suchmeldung beim Roten Kreuz laufen«, sagte August mit schwerer Stimme. »Ich habe das zum Teil in meinen Briefen nach Amerika erwähnt. Aber es ist töricht zu hoffen.«
Dennoch schöpfte Lucy von diesem Moment an Hoffnung. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich den vorderen Fenstern des Hauses, oben oder unten, zuwandte. Sie blickte träumend hinaus und sah sie den Weg entlang kommen. Sie waren so dünn wie Harald, aber zu abgehärteten, verwahrlosten Kindern herangewachsen, zwölf, zehn und sieben Jahre alt, einen Spielzeugtiger,
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