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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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einen Teddybären, ein kleines Holzpferd umklammernd.
    Diese Tagträume genoß sie viel mehr als ihre tatsächlichen Träume, die kalt und angsterfüllt waren. Sie sah Jo mit einem toten Gesichtsausdruck, seine Lippen bewegten sich, als ob er betete. Da war ein klopfendes, kratzendes, bohrendes Geräusch, das nicht aufhörte und manchmal wie eine Stimme war, das Christkind oder die verlorenen Kinder, die hereinkommen wollten. Nachts wachte sie auf und hörte ihren Vater einen merkwürdigen, brüllenden Schrei ausstoßen, wenn er aus seinem Alptraum erwachte und hörte ihre Mutter ihn wieder in den Schlaf trösten.
    Am Vorabend des sechsten Dezember, Nikolaustag, stellte jeder einen Schuh ins Zwischengeschoß, in die Nähe der Tür zum Arbeitszimmer. Die Erwachsenen überredeten die Kinder, es zu tun, und umgekehrt. Lucy und Jo wählten sorgfältig kleine Geschenke aus ihrem Vorrat aus, Parfüm, Seife, Socken; und was bekamen sie?
    »Die machen wohl Witze«, sagte Jo.
    »Psst«, sagte Lucy und klang wie Mutti oder Tante Helga. »Wir bekommen unsere richtigen Geschenke an Heiligabend …«
    Es war ein alter Scherz, an den sich niemand erinnerte. In alten Zeiten mußten Kinder zu Weihnachten mit viel weniger zufrieden sein: genauer gesagt, mit einer Orange und einem Beutel Nüsse.
    Es war Viertel vor sechs, bitterkalt und stockfinster. Der Strom würde noch zwei Stunden ausgeschaltet sein: sie hatten mit Hilfe von Jos Taschenlampe die Schuhe gefüllt und ihre eigenen Geschenke gefunden. Bald würde Tante Helga herunterkommen, um bei Kerzenlicht den Küchenherd anzuschüren, dessen Glut mit Asche zugedeckt worden war. Unter ihren Morgenmänteln vollständig angezogen mit Hosen und Pullovern, saßen sie auf den Stufen und schnupperten an den Orangen.
    »Ich gehe nach Hause«, sagte Jo.
    »Das kannst du nicht«, sagte Lucy, die nicht vorgab, ihn falsch zu verstehen. »Du bist zu jung, du mußt bei Mutti bleiben.«
    »Sie wird mich verstehen«, sagte Jo mit eiserner Entschlossenheit.
    »Papa hat Pläne mit dir.«
    »Papa kann mich in Amerika besuchen. Er hätte sowieso mit uns mitgehen sollen.«
    »Jo, sie tun alle ihr Bestes … sogar Tante Helga.«
    »Sie ist gemein«, sagte Jo und knetete seine Orange. »Das hier ist ein unheimlicher Ort. Denk an Onkel Markus und den armen Kerl, der vom Dach gefallen ist.«
    »Das war der Krieg«, sagte Lucy. »Jo, du mußt hierbleiben.«
    »Dieses ganze Haus ist nicht besser als eins der Konzentrationslager.«
    Lucy war entsetzt und wütend.
    »Du bist verrückt«, sagte sie kalt. »Hast du überhaupt irgendeine Vorstellung davon, wie schlimm es an diesen Orten war?«
    »Ja!« sagte Jo.
    Tante Helga kam die knarrenden Treppen herunter und entdeckte ihr Geschenk in ihrem alten blauen Samtpantoffel.
    »Lavendelseife!« rief sie. »Nach all den Jahren!«
     
    August wurde von Harald dazu getrieben, Lesungen aus seinen Werken und Radiointerviews zu geben; er empfing die Vertreter seiner Herausgeber im Arbeitszimmer. Es gab weitere Änderungen im gewohnten Ablauf, weil die Kinder darauf vorbereitet wurden, eine deutsche Oberschule zu besuchen. Sogar Lucy mußte ein Jahr Gymnasium absolvieren, bevor sie sich um einen Studienplatz bewerben konnte. Mutti gab ihnen Nachhilfestunden in Mathe und Harald in deutscher Grammatik. Man kam zu dem Schluß, daß das Schreiben von grammatikalisch perfektem Deutsch so schwierig war, daß Lucy und Jo es vielleicht niemals ausreichend beherrschen würden, um bestimmte Berufe zu ergreifen.
    August entdeckte – mit einem entsetzten Gesichtsausdruck, eines verschneiten Nachmittags, als sie hinter ihm her durch die Straßen von Breitbach stapften –, daß Lucy jeden einzelnen seiner Romane im Original und in der Übersetzung gelesen hatte. Er nahm sich zweimal in der Woche zwei Stunden Zeit, um ihr Nachhilfestunden in Literatur zu geben. Sie begannen sehr frei zu diskutieren und interpretieren. Dann hielten immer beide verblüfft inne: Lucy, weil er es war, der Autor, der da sprach, August, weil dieses wilde amerikanische Mädchen seine eigene Tochter war. Tante Helga, die kam, um das Seminar zu beenden, hatte ein Sprichwort auf Lager: »Aus Kindern werden Leute«.
    Der Schnee lag jetzt tiefer, und alles freute sich, denn Breitbach hatte nicht immer eine weiße Weihnacht. Die kältesten Monate waren jene zwei Generäle, die weiter im Norden Napoleon besiegt hatten: Januar und Februar. Lucy, die eines Nachmittags im Arbeitszimmer auf und ab ging, sah aus dem

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