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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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kam langsamer. Ihr Vater starrte sie an, während sie sich näherte.
    »Ein Filmstar«, sagte er.
    Dann hielt er sie in den Armen, einen auf jeder Seite, und eine Welle von Traurigkeit ging über sein Gesicht.
    »Ich dachte, ich würde meine Kleinen nie wieder sehen.«
    »Papa«, flüsterte Jo, »ist Hitler wirklich tot?«
    »Ich hoffe es«, sagte August Füller inbrünstig.
    »Papa, ist das wahr mit den Schreckenslagern?« fragte Lucy, die nicht zurückstehen wollte.
    Während sie noch fragte wurde ihr klar, wie dumm die Frage war. Harald, ihr Bruder, war sicherlich das Opfer irgendeines Lagers. War er in Beben gewesen?
    »Eins will ich euch sagen«, sagte Papa, »eins will ich euch sagen, meine lieben Kinder. Das Elend wird niemals enden. Sie werden noch fünfzig Jahre lang die Toten zählen und sich über die Schuldfrage streiten.«
    »Papa«, sagte Jo, »ich werde dir ein vorzeitiges Geschenk geben.«
    Ihr Gepäck war mit Geschenken vollgestopft. Jetzt zog Jo aus seiner Hosentasche ein Geschicklichkeitsspiel aus einem Kramladen; winzige Kugeln mußten in die Augen eines Tigers gerollt werden. Lucy überließ sie dem Hin- und Herrollen des Spieles und schritt auf die Balkontüren zu. Von weitem hörte man den Klang von Kinderstimmen, aus einem Hinterhof oder von einem Spielplatz. Sie sah auf den toten Garten hinaus und wünschte sich, daß es schneien würde.
    In der Zypressenhecke war eine Lücke, zwei Bäume breit. Ein junger Mann in Schwarz, vielleicht derselbe, der bei ihrer Ankunft vorbeigeflattert war, stand im hohen Gras des Friedhofs und blickte hinauf auf das Haus. Sie konnte sein schwarzes, lockiges Haar und sein blasses Gesicht er kennen. Er trug eine lange schwarze Jacke, keinen richtigen Mantel. Lucy konnte jenseits der Wildnis ordentliche Gräber mit Blumen und geharkte Wege erkennen.
    Tante Helga kam, um Lucy und Jo mitzunehmen.
    »Die Besuchszeit ist vorbei«, sagte sie energisch, wie eine Oberschwester im Krankenhaus.
    Jo war störrisch wie ein Sechsjähriger. Er wollte bei Papa bleiben. Er wand seinen Arm aus Tante Helgas festem Griff und protestierte laut in Englisch.
    »Verdammt nochmal! Wir sind eben erst gekommen!«
    Lucy sah ihren Vater an. Mit einem schwachen, sanften Lächeln legte er das Spiel beiseite und nahm seinen Füller zur Hand. Tante Helga jagte Jo um den Schreibtisch herum, Papa saß da wie ein Mann unter einer Glasglocke und ließ seine Schwester sein jüngstes Kind aus dem Zimmer jagen. Als sie an Lucy vorbeikamen sagte Tante Helga:
    »Du auch! Du auch Luisa!«
    Lucy warf einen Blick hinunter und sah, daß der junge Mann in Schwarz weggegangen war. Sie folgten Tante Helga in ihre alten Schlafzimmer hinaus, die sie sich mit Harald und Roswitha geteilt hatten. Lucy gefiel ihr Zimmer durchaus, und sie versuchte, nicht an das sonnige Schlafzimmer bei den O’Briens zu denken, mit den Rüschen und Pünktchenmustern. Die Koffer waren hinaufgetragen worden, also packten Mutti und Lucy aus und lachten und sahen sich Abschiedsfotos aus Oakland, Kalifornien an. Nachdem er sich seine Turnschuhe angezogen hatte, durfte Jo auf Entdeckungsjagd gehen. Schließlich kehrte Mutti an ihre Schreibmaschine unten zurück, und Tante Helga sagte:
    »Komm Luisa!«
    Sie trugen die leeren Koffer in den dritten Stock, wo Tante Helga schlief, und dann die enge Treppe zum Dachboden hinauf. Ein winziger Treppenabsatz war dort, mit einem Fenster, das auf die Dachschiefer hinaussah. Lucy warf einen ängstlichen Blick auf das Treppengeländer und dachte an Onkel Markus. Der lange Dachboden war in kleine Räume abgeteilt, sauber gefegt und roch nach Mottenkugeln. Die Dachluken waren mit braunem Papier überdeckt. Und tatsächlich gab es eine Version ihres Spielhauses mit einem alten Sofa und einer schweren Kommode an einer Trennwand. In einer Ecke lauerte die Schneiderpuppe, in eine Netzgardine gewickelt, wie eine kopflose Braut. Man hörte ein leises, dumpfes Plumpsen auf der Treppe, und Jo kam herein, das Gesicht rot vor Aufregung.
    »Hier haben wir immer gespielt!« sagte er. »Ich erinnere mich!«
    »Ach Joachim …«, sagte Tante Helga sanft.
    Sie standen neben ihr und sahen, daß eine feldgraue Uniform in voller Länge auf dem Sofa ausgebreitet war; nahe dabei stand ein Paar abgetragener Stiefel.
    »Ein trauriger Ort für uns alle«, sagte sie. »Mein armer Markus …«
    Niedergeschlagen marschierten sie hinaus, und Tante Helga schloß die Tür oben an der Treppe ab.
    »Ich schätze, es wäre ziemlich kalt

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