Frohes Fest!
Fenster und gefror. Der junge Mann war viel näher, mitten auf dem Grundstück, und starrte das Haus mit einem Ausdruck von Elend und Entsetzen an, der das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Papa«, flüsterte sie, »da ist jemand im Garten!«
»Was ist los?« fragte August. »Ist es jemand, der hinter Brennholz her ist?«
Aus einem weit entfernten Teil des Hauses erklangt ein anhaltendes Klopfen, kleine pochende Laute, die aufstiegen und dann erstarben. Sie hörten die Geräusche beide, dessen war sich Lucy sicher.
»Ich sehe einen jungen Mann mit schwarzem Haar«, sagte sie rasch. »Er trägt diese lange schwarze Jacke … mit einem gelben Flecken.«
August stieß einen verblüfften Schrei aus und eilte ans Fenster. Sie sahen gemeinsam hinunter, aber der junge Mann war verschwunden. Sie starrten einen unberührten Schneeflecken an. Sie waren beide blaß geworden.
»Es war Stein, der junge Stein«, sagte August, »der seinen Davidstern trug.«
»Er kam vom Friedhof«, sagte Lucy.
»Er liegt dort begraben«, sagte August, »in der Wildnis. Das ist der jüdische Friedhof, vom übrigen abgeteilt. Ich glaube, er war der letzte, der an diesem Ort begraben wurde, nachdem er gefunden worden war … hinter dem Haus.«
August sank auf die Fensterbank neben der Balkontür und begrub seinen Kopf in den Händen.
»Ich träume von ihm«, sagte er. »Es ist einer meiner Alpträume. Ich sehe ihn auf dem Weg und laufe ihm entge gen, rufe »Komm herein, komm herein …«, aber er wendet sich von mir ab, weil mein Haus verflucht ist. Mein ganzes Leben, meine Arbeit, mein Land sind verflucht …«
»Hörst du … hörst du das Klopfen?« fragte Lucy sehr leise.
»Ja«, sagte August. »Und Kratzen und Nagen … die Ratten und Mäuse, die die Grundmauern des Hauses bearbeiten …«
»Ach Papa«, rief Lucy und nahm ihn in die Arme. »Es wird wieder in Ordnung kommen. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Morgen ist Heiligabend.«
Sie sah wieder in den verschneiten Garten hinunter und schrie laut auf. Es war nicht der junge Stein, der dort stand und mit einem entsetzlichen Gesichtsausdruck nach oben blickte, sondern Jo, ihr Bruder. Er warf einen großen Schneeball, und er landete auf dem Balkon. Im nächsten Augenblick kam Tante Helga ins Bild und scheuchte ihn davon, wobei sie harte kleine Schläge auf die Schultern seines Mantels herunterprasseln ließ. Lucy erkannte, daß ihr Schrei zuviel für Papa gewesen war, der laute Geräusche haßte. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, seinen schönen Kopf schüttelnd; ihre literarischen Studien waren für diesen Tag beendet.
Es gab das Problem, wo man den Baum aufstellen sollte. Das kleine Zimmer unten mit den blauen Vorhängen war jetzt Vickis Schreibzimmer, voller wertvoller Manuskripte. Der Baum wurde halb heimlich von Harald hereingeholt und im Eßzimmer untergebracht. Tante Helga scheuchte alle davon und machte sich an die Arbeit.
Spät am Nachmittag saß Lucy mit ihrer Mutter im Schreibzimmer, und Jo kam herein, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Es war Heiligabend, daher trugen sie ihre besten Kleider. Irgendetwas stimmte mit Jo ganz und gar nicht. Er war fünf Zentimeter gewachsen, sein Gesicht war dünn, beim Sprechen biß er auf seltsame Weise die Zähne zusammen. Alle Erwachsenen hatten in Lucys Gegenwart das Wort ›Pubertät‹ ausgesprochen, aber sie war nicht so recht überzeugt. Nun gut, vielleicht Pubertät, aber was sonst noch? Was hatte er vor? Jetzt saß er bei ihnen und sah alt und krank aus, ein bißchen wie Harald, und blätterte die Kopien von Vaters Briefen durch an Luisa und Joachim in Amerika.
Sie warteten auf das Christkind. Einmal steckte Harald seinen Kopf ins Zimmer. Er sammelte ihre eingepackten Geschenke ein, um sie unter den Baum zu legen, und ließ alle nach Tante Helgas Schlüsseln suchen … sie stellte auf der Suche nach ihren Schlüsseln schon das ganze Haus auf den Kopf. Er fragte, ob sie ihre Darbietungen vorbereitet hätten. Es wurde von Lucy und Jo als den beiden Jüngsten erwartet, daß sie beim Fest etwas aufsagten oder vorlasen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Mutti nervös, nachdem Harald gegangen war. »Jo? Ich bin sicher, Lucy hat keine Angst.«
»Angst!« sagte Jo verächtlich. »Angst, denen etwas vorzulesen?«
Dann tat es ihm leid, und er umarmte Mutti. Tante Helga warf einen Blick hinein und sagte:
»Vicki … Vicki … Du mußt deinen Beitrag leisten!«
Sie lächelte Lucy und Jo schelmisch zu.
»Ihr
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