Frohes Fest!
dunkel, und im Zimmer war nur das Kerzenlicht vom Adventskranz. Es war nicht geheizt, und eine strenge Kälte sickerte ins Haus. Von weitem erklangen monotone Ausbrüche von Klopfen und Hämmern, als ob ein Amateurzimmermann ein anderes Haus flicken würde, um die Kälte draußen zu halten. Plötzlich hörte Lucy einen klagenden Schrei, durch die Entfernung gedämpft, und ein weiches, furchtbares dumpfes Plumpsen.
»Hast du das gehört?«
Die Frage war eigentlich überflüssig, Tante Helga hatte nichts gehört.
»Wirklich«, sagte Lucy, »es klang, als ob jemand … hinuntergefallen sei.«
Helgas Gesicht wurde starr und mißbilligend.
»Ich muß mich schon wundern über Harald, euch mit diesen traurigen Geschichten vollzustopfen.«
»Was für traurige Geschichten?«
»Genug!« sagte Tante Helga. »Wir werden jetzt abräumen, und wenn du ein braves Mädchen bist, darfst du ein winziges Glas Holunderwein trinken.«
Sie gingen ein paar Stufen in die Küche hinunter, die nicht mehr nach Plätzchen roch. Es stank durchdringend nach Rauch vom Ofen. Alle Reinigungsmittel waren knapp: Seife, Waschpulver, Bohnerwachs, Spiritus. Es gab Sand, um Töpfe und Pfannen zu scheuern. Nachdem der Abwasch erledigt war, öffnete Lucy die Hintertür und sah in den Hof hinaus. Die Nacht war nicht richtig dunkel, es begann gerade zu schneien. Die alte Schaukel pendelte hin und her, als ob Luisa, neun Jahre alt, gerade ins Haus gelaufen wäre.
»Ach, ich erinnere mich …«
»Ich nenne es den Kinderspielplatz«, sagte Tante Helga. »Joachim sollte sich das ansehen. Ich habe alle bunten Lichter aufgehängt, die wir noch hatten. Wenn ich daran denke, wie wir diesen Hof im Sommer mit bunten Laternen und zur Weihnachtszeit mit bunten Lichtern vollgehängt haben. Ich denke an all die Kinder: Roswitha, Harald, Luisa, Joachim …«
»Es waren Kinder im Haus, die sich versteckten …«
»Ja, selbst die kleinen Rothmeiers. Sie waren so still und brav, aber in der Dämmerung rannten sie herum wie verrückt. Dieser Hof ist von der Straße aus nicht zu sehen.«
Tante Helga betätigte den Schalter, und ein halbes Dutzend farbiger Birnen erblühten im Halbdunkel, aufgehängt zwischen der Wäscheleine und dem Gartenschuppen. Lucy ging in den Garten hinunter, zwischen Phantomkindern, die so wild herumrannten. Roswitha war tot, Harald dünn und alt, Joachim ein Zwangsumgesiedelter, aus Luisa war Lucy geworden. Tante Helga rief und folgte ihr. Sie steckte sie in einen alten Tuchmantel und ein paar knöchelhoher Stiefel.
»Tante Helga, was ist aus den Rothmeiers geworden?« fragte Lucy.
Tante Helga stand oben auf der Treppe und breitete die Arme in Richtung Spielplatz und Lichter aus.
»Sie wurden gerettet!« sagte sie. »Wir haben die Familie gerettet, dein Vater und ich. Sie sind alle sicher nach Palästina gelangt.«
Lucy stapfte vorsichtig über den Rasen; er war leicht mit Schnee besprenkelt, der verharscht schien. Die Schaukel hing an einem weiß angestrichenen Eisengestell; der Lack warf Blasen und war rostgesprenkelt. Sie lehnte sich gegen die rückwärtige Mauer aus uraltem, rosigen Stein und wandte ihren Blick dem Haus zu.
Sie war von Kälte durchdrungen. Noch nie in ihrem Leben war ihr so kalt gewesen. Ihr ganzer Körper zitterte, ihre Zähne klapperten, ihr Gesicht war steif vor Kälte. Sie konnte sich von ihrem Platz an der Mauer nicht fortbewegen. Das Haus war merkwürdig beleuchtet, rot und grün in leuchtenden Flecken von den farbigen Birnen. Die Gestalt eines Mannes stand auf dem Dach, nicht weit von der Laufplanke und der schrägen Eisenleiter für den Schornsteinfeger. In tödlicher Stille machte der Mann einen Schritt zur Seite und fiel, mit dem Gesicht nach unten, sein schwarzer Mantel blähte sich auf. Lucy kannte die Geräusche, die er gemacht hatte: den klagenden, entsetzlichen Schrei, den kurzen Weg eines Körpers durch die Luft und das feuchte Plumpsen auf dem verschneiten Boden.
Sie war gefangen, unfähig, um Hilfe zu rufen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen über das, was sie gerade gesehen hatte. Allmählich kehrten die normalen Geräusche der Nacht zurück. Tante Helga schloß eine Schranktür. Eine Autohupe ertönte, mehrere Blocks entfernt; ein Hund jaulte. Lucy rannte erschauernd zur Hintertür und hielt für einen Moment inne, um einen Blick um die Ecke des Hauses zu werfen. Nichts lag auf dem Boden.
Sie schleppte sich wieder hinein, hängte ihren Mantel auf knipste auf Tante Helgas Anweisung hin
Weitere Kostenlose Bücher