Frohes Fest!
Instinkt ihn nicht täuschte.
»Schwesterherz … Wally?« Dave hastete durch den kurzen Flur und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Wo steckt ihr denn?« Er legte eine Pause ein. »Kinder?«
Einen Moment lang, auf der Schwelle zur streng funktionell eingerichteten Küche, dachte Dave schon, für alle diese unheimlichen Vorgänge eine plausible Erklärung gefunden zu haben. An der Kühlschranktür hafteten kleine Magnetfiguren, und Dave rechnete damit, eine von einem freundlichen Weihnachtsmann oder Engel festgehaltene Nachricht zu entdecken. Doch dann sah er, daß die männliche Figur kein Weihnachtsmann und die weibliche kein Engel war. Als er die halbnackte Männerfigur von der Kühlschranktür abnahm, flatterte tatsächlich ein Blatt Papier auf den Linoleumfußboden.
Dave hob den Zettel auf. Er war unbeschrieben, leer. Er befestigte ihn wieder mit dem Magneten an der Kühlschranktür, dann ging er ins Wohnzimmer.
Dave war ratlos. Ihm fiel keine vernünftige Erklärung dafür ein, daß niemand in der Wohnung war. Wieso waren alle fort – am Heiligen Abend? Er erwog verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht hatte sich Wally auf der Weihnachtsfeier in seinem Betrieb schon früh vollaufen lassen, war heimgefahren und dann mit seiner Schwester und den Kindern irgendwohin kutschiert. Obwohl ihm das höchst unwahrscheinlich vorkam. Zu einem solchen gemeinsamen Unternehmen fehlte ihnen allen – wie hieß das verdammte Wort doch gleich? – der Zusammenhalt, die Einmütigkeit. Und Wally war alles andere als spontan.
Stirnrunzelnd betrat er das Wohnzimmer. Was er dort als erstes sah, beeindruckte und ärgerte ihn zugleich. Der Weihnachtsbaum, der ihm in vollem Schmuck und hell erleuchtet entgegenprangte, war noch größer, noch protziger als in den letzten Jahren. Darunter lagen Geschenke, wenn auch – so schien es ihm – nicht so viele wie früher.
Dave machte eine finstere Miene und ballte die Fäuste. Es ging nicht, daß jemand die Weihnachtsbaumbeleuchtung einschaltete und dann einfach die Wohnung verließ. Wer es versäumte, seinen Kindern vernünftiges Verhalten beizubringen, erzog sie automatisch zu Fahrlässigkeit. Jedes Jahr passierten Kurzschlüsse durch elektrische Christbaumkerzen.
Ehrlicherweise gestand er sich jedoch ein, daß er selbst kein ›Musteronkel‹ war. Er und seine geschiedene Frau hatten sich nicht dazu durchringen können, Kinder in die Welt zu setzen. Sie hatten sich nie ›soweit‹ gefühlt. Als ob je ein Mensch ›soweit‹ wäre, Kinder verantwortungsbewußt großzuziehen.
Verflixt, dachte er, in diesem Jahr war ich nicht einmal auf Tinas und Andys Geburtstagsparties. Ich glaube, seit Ollies Geburtstag bin ich zum erstenmal wieder in dieser Wohnung.
Ollie war verspätet zu seiner eigenen Geburtstagsfeier erschienen; die anderen Kinder hatten für ihn eine Ausrede parat, und als er dann auftauchte, hatte seine Mutter ihn nicht mal gefragt, wo er so lange gewesen sei …
Mit gespreizten Beinen und über der Brust verschränkten Armen stand Dave da und starrte die riesige geschmückte Tanne an – als sei sie eine Kristallkugel, die die Zukunft der Familie preisgeben könne, oder ein Puzzlespiel voller versteckter Anspielungen und grausamer Spekulationen.
Zu seiner Überraschung merkte Dave plötzlich, daß er schwitzte. Vielleicht liegt es einfach an dieser behelfsmäßigen Wohnsituation, dachte er, daß die Menschen ihr Zuhause lediglich als einen Ort ansehen, an dem sie mal alle viere ausstrecken können, um sich vom ständigen Hin- und Hergerenne, Trinken und Fixen zu erholen.
Der bloße Anblick des prachtvollen Weihnachtsbaums trug dazu bei, David Cramers Besorgnis ein wenig zu zerstreuen. Er betrachtete die Geschenkpakete, die unter der Tanne verteilt lagen. Langsam schritt er über den streng funktionellen Teppichboden darauf zu und bückte sich. Probehalber nahm er ein Päckchen, das für Ollie bestimmt war, in die Hand und schüttelte es vorsichtig.
Es war nichts drin. Er hätte seine Pension darauf verwettet, daß das Paket leer war.
Er hob ein wunderschön eingewickeltes Päckchen hoch, auf dessen rot-grünem Geschenkanhänger TINA stand. Sofort wußte er, daß auch in diesem Karton nichts steckte. Mit dem gleichen Ergebnis prüfte er ein Päckchen für seinen anderen Neffen.
Wieso er wußte, daß in keinem der Kartons, die sorgfältig unter dem Weihnachtsbaum arrangiert waren, ein Geschenk steckte, hätte Dave nicht erklären können. Er wußte es einfach.
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