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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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und leerte den Karton rasch. Sechs übelriechende, staubige Gegenstände standen auf dem Tisch.
    »Die Schuhe der Kinder. Ihre Schuhe!« sagte Harald und seine Stimme erhob sich zu Gebrüll.
    Er tastete zwischen den Schuhen herum und entdeckte, daß einige von ihnen nicht leer waren. Er schnappte sich eine Serviette und wischte sich die Finger ab. Dann reichte er Papa seinen eigenen Brief.
    »Was, wenn Frau Rothmeier allein aufgegriffen wurde?« sagte er. »Sie ging hinaus, um ihren Bruder zu treffen und ließ die Kinder in ihrem Versteck …«
    »Das ist nicht möglich«, sagte Mutti. »Was du sagst, ist nicht möglich. Die Kinder …«
    Nach langem Schweigen sagte Papa sehr sanft:
    »Helga …?«
    Ein plötzliches, lautes, plätscherndes Geräusch, es hörte nicht auf, dann erfüllte der Gestank von heißem Urin den Raum. Tante Helga wurde knallrot und bekam einen hysterischen Anfall, halb lachend, halb weinend. Keiner wagte, sie zu ohrfeigen. Lucy trat rückwärts vom feuchten Teppich herunter, eine rote Kugel fiel vom Weihnachtsbaum.
    »Ich wollte doch zu August fahren«, sagte Tante Helga. »Meine Koffer waren gepackt. Es hatte so lange gedauert, die Genehmigung zu bekommen …«
    Lucy ging weiter rückwärts, bis sie an der Tür stand. Papa und Harald fingen an zu sprechen, beide gleichzeitig. Sie stahl sich aus dem Zimmer und begann, die Treppe hinauf zu laufen, leise, leicht, als ob sie flöge. Sie stieg höher und höher, und die Dachbodentür stand auf, der Schlüssel steckte im Schloß. Sie ging hinein und atmete den Geruch von Mottenkugeln; der Dachboden war bitterkalt; die Dachluken waren mit Frostblumen überzogen. Jo hatte Kerzen auf einem alten Teller befestigt; das Sofa war mit der Reisedecke und einem Läufer bedeckt. Lucy saß still da, und die Schranktür bewegte sich. Er setzte sich neben Lucy, und sie hielten sich ohne Verlegenheit an den Händen.
    »Es gab eine Tür, die mit Tapete beklebt war«, sagte Lucy. »Sie hat den Schrank davorgerückt.«
    »Vielleicht haben sie das immer getan«, sagte Jo.
    »Du hast den Schlüssel heute oder gestern geklaut«, sagte sie. »Wie bist du vorher hineingekommen?«
    »Über das Dach«, sagte er. »Aus dem Fenster über dem Treppenabsatz hinaus und durch eine Dachluke hinein. Es war schon immer eine Geheimbutze.«
    Er hätte fallen können, dachte sie. Er ist ganz allein hierhergekommen und hat seinen Weg in das Zimmer gefunden. Er fand die Kinder. Er wurde dünn und alt und hat nichts gesagt.
    »Habe ein Brett von der Rückseite des Schranks herunterbekommen«, sagte Jo gerade. »Dann bin ich in das Zimmer eingebrochen. Es war nicht so schwer. Ich habe nur nach der Kiste mit dem Spielzeug gesucht.«
    »Solomon Stein kam darauf, wo sie waren«, sagte Lucy. »Er versuchte, sie zu retten. Er hat versucht, hineinzugelangen.«
    Schließlich begann Lucy zu weinen, sie fühlte die heißen Tränen ihre kalten Wangen hinunterlaufen.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann nicht aufhören, daran zu denken.«
    Die eisige Kälte. Die Dunkelheit. Sie waren sehr brav, sehr still, aber schließlich begannen sie zu rufen, klopfen, kratzen, wie Mäuse, die an der Grundsubstanz des Hauses nagten … des leeren Hauses.
    »Ist es sehr schlimm da drin?« fragte sie. »Kann ich …?«
    Was meinte sie? Kann ich durch die enge Tür hineinkommen? Kann ich es ertragen? Sie dachte an ihren Traum oder ihre Vision von Jo, der mit einem toten Gesichtsausdruck an einem Tisch saß. Schließlich öffnete sie den Schrank und spähte durch die kleine Öffnung dahinter. Jo hatte die Tür aus den Angeln gebrochen. Drinnen hatte er einen kleinen Haufen aus Tannenzweigen aufgeschichtet, der die Körper der beiden älteren Kinder, Rosa und Benny, bedeckte, und einen kleineren Haufen für das Baby auf einem verschimmelten Kissen. Die Luft war noch immer sehr schlecht; das Zimmer war nicht größer als ein Schrank; die Ecke einer großen Dachluke ragte hinein. In das Zimmer zu blicken bedeutete, eine Art Geheimnis erleben.
    »Sie wußte, daß ihre Mutter niemals zurückkommen würde«, sagte Jo. »Sie ließ sie da und ging fort, um für Papa zu sorgen, und hat nie jemandem davon erzählt.«
    »O doch«, sagte Lucy, »ich glaube, das hat sie.«
    Sie wandte den Kopf, um die arme Schneiderpuppe anzublicken; Jo hatte ihr die feldgraue Armeejacke um die Schultern gehängt.
    »Ich glaube, sie hat es Onkel Markus erzählt.«
    Sie erinnerte sich daran, was Harald gesagt hatte. Markus Krantz war ein

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