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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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Szenen übersättigt.
    Allerdings gibt es auch Leute, die sich immer an Schilderungen von kauzigen Onkeln und liebevollen Großeltern ergötzen, die nicht genug bekommen können von Erzählungen über ganz gewöhnliche Vettern und Basen; das sind die Leser, die sich am liebsten in Schmöker vertiefen, die von mehreren Generationen handeln, die aufgehen im Kreis der fiktiven Personen, die die Seite eines Buchs bevölkern. Das sind Menschen vom Schlag meiner Tante Elise.
    Für die Dauer der Weihnachtsferien bewohnte und beschlagnahmte sie stets das größte Zimmer ihres Hauses. Diesen Raum lernte ich nie anders als phantastisch dekoriert kennen: er glich einer Halluzination in weihnachtlichem Gewand. Ich kann nur versuchen, ein paar Besonderheiten wiederzugeben.
    Überall hingen Stechpalmenzweige – natürliche und solche aus Plastik. Stechpalmen schmückten die Bilderrahmen, die Holzregale mit dem zahllosen Krimskrams darauf, selbst die samtartige Prägetapete, wo sich die Zweige mit dem verschnörkelten, großblumigen Muster zu vermischen schienen. Stechpalmen hingen an den Lampen, selbst von dem italienischen Kristallüster baumelten ganze Büschel von Stechpalmenzweigen herunter.
    In dem riesigen offenen Kamin brannte ein großes Feuer, und vor dem funkenspeienden Schlund stand ein schützender Ofenschirm. Dieser Schirm hatte zu beiden Seiten dicke Messingpfosten, über deren Spitzen – die ich in ihrer ursprünglichen Form nie zu sehen bekam – kleine Handpuppen gestülpt waren. Die Puppen stellten Weihnachtsmänner dar; schräg zur Seite geneigt, streckten sie ihre steifen, winzigen Stoffärmchen mit den Fausthandschuhen aus, wie wenn sie darauf warteten, jemanden zu umarmen.
    In der Ecke nahe dem vorderen Fenster verbarg sich eine große, kräftige Tanne unter jeder erdenklichen Art von Christbaumschmuck und Glitzergirlanden. Sie trug sogar alberne Seidenschleifen in Pastelltönen, die menschliche Hände liebevoll um die Zweige gebunden hatten. Dieselben Hände hatten auch die Geschenke unter dem Baum verteilt, und mir kam es so vor, als lägen Jahr für Jahr die Päckchen, die für bestimmte Familienmitglieder gedacht waren, haargenau am selben Platz, als seien sie nie bewegt oder gar geöffnet worden.
    Nichts in diesem Zimmer schien sich je zu verändern. Dieser Umstand verstärkte in mir das alptraumhafte Gefühl, an einem Ritual teilzunehmen, das bis in alle Ewigkeit weiterginge, und aus dem es kein Entrinnen gäbe. Selbst heute noch beschleicht mich manchmal der Eindruck, in einer immerwährenden weihnachtlichen Zeremonie gefangen zu sein.
    Mein Geschenk lag immer ganz hinten, gleich an der Zimmerwand. Es war mit einem hellrosa Band verschnürt, und eingewickelt in hellblaues Papier, auf dem kleine Teddybären in Kindernachthemden von Geschenkpaketen träumten, die auch in hellblaues Papier eingewickelt waren; auf diesem Papier waren es jedoch kleine Jungen, die Kindernachthemden trugen und träumten.
    Beinahe den ganzen Heiligen Abend lang saß ich dann in der Nähe meines Geschenks, hauptsächlich, weil mir dies logisch erschien, nicht etwa, weil ich auf den Inhalt des Pakets gespannt war. Es enthielt immer Unterwäsche, Nachtwäsche oder Socken, nie die wundervolle Überraschung, die ich mir sehnsüchtig von meiner schon unanständig reichen Tante erhoffte.
    Niemand schien etwas dagegen zu haben, daß ich mich von den übrigen Verwandten absonderte, die sich fast alle in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers versammelten, um zu plaudern oder Weihnachtslieder zu singen. Für die musikalische Begleitung sorgte Tante Elise, die mit dem Rücken zu ihren Gästen saß und auf einer altertümlichen Orgel spielte.
    Schla-af in himmlischer Ru-huu
    »Das war sehr schön«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme klang immer, als müsse sie sich räuspern, um ihre Kehle von irgendeinem klebrigen Zeug zu befreien. Sie tat es jedoch nicht, sondern schaltete die elektrische Orgel ab. Danach pflegte immer jemand aus der Verwandtschaft das Zimmer zu verlassen und sich in einen anderen Teil des Hauses zurückzuziehen.
    »Wir haben den alten Jack gar nicht mitsingen hören«, sagte sie und wandte sich um. Sie blickte zu mir hin. Ich saß in einem großen Sessel vor dem Fenster, hinter dem Nebelschwaden wogten. An diesem Weihnachtsfest war ich zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt und verbrachte die Schulferien zu Hause. Ich hatte Tante Elises Weihnachtspunsch gut zugesprochen und hätte am liebsten geantwortet:

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