Frohes Fest!
anständiger Kerl und nach der russischen Front erschöpft.
Kurz darauf sagte Jo:
»Was wird geschehen? Was werden sie tun?«
Lucy schüttelte den Kopf. Sie hatte das Vermögen verloren, die Handlungen irgendeines der Erwachsenen vorauszusehen. Sie konnte sich nur mit Jo und den toten Kindern identifizieren. Sie saßen im Kerzenlicht und warteten auf den Klang von Schritten auf der Treppe zum Dachboden.
Originaltitel: »The House in the Cemetary Street«
Copyright © 1988 by Davis Publications, Inc.
(erstmals erschienen in »Isaac Asimov’s
Science Fiction Magazine«, Mitte Dezember 1988);
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
und Thomas Schluck, Literarische Agentur, Garbsen
Copyright © 1989 der deutschen Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von
Maria Castro
J. N. WlLLIAMSON
Stille Weihnachten
Nicht der Umstand, daß der Schlüssel im Schloß steckte, überraschte ihn, sondern daß sich der Türknauf drehen ließ; daß er die Wohnung seiner Schwester betreten konnte, ohne den Schlüssel zu benutzen.
Was ihn sogleich beunruhigte, war die Stille. Die Kinder seiner Schwester kamen ihm nicht entgegengelaufen, um Onkel Dave lärmend zu begrüßen; es herrschte Grabesstille. Dave runzelte die Stirn.
Auch wenn es sich um eine streng funktionelle Wohnung in einer modernen, langweiligen Siedlung handelte, hätten die Kinder am Heiligen Abend zu Hause sein müssen. Daves Schwester gab zu, daß sie in letzter Zeit nie genau wüßte, wo ihre Kinder gerade wären oder welche obskuren Freundschaften sie schlössen, da sie und Wally den ganzen Tag lang außer Haus seien, um zu arbeiten. Ständig schafften sie, um Geld für die Anzahlung auf ein richtiges, eigenes Heim zusammenzusparen. Doch Dave fand, sie sollten es wenigstens versuchen, die Kinder ein wenig im Auge zu behalten. Eltern mußten einfach wissen, was los war und mit wem ihre Kinder verkehrten.
Dann gewannen David Cramers beruflichen Instinkte die Oberhand, und er begann wie ein Polizeibeamter zu denken. Ihm fiel ein, daß die Firma, in der seine Schwester arbeitete, an diesem Tag um fünfzehn Uhr schloß. Jetzt war es bereits nach siebzehn Uhr. Sein Schwager, Wally, hatte um die Mittagszeit angerufen, um ihm deshalb Bescheid zu sagen. Nuschelnd fügte er dann hinzu, er selbst habe noch vor dem Abend ein paar Einkäufe in letzter Minute zu tätigen. Dave grinste ohne Humor. Er konnte es sich nicht vorstellen, was Wally auf der Weihnachtsfeier in seinem Betrieb für seine Frau und die drei Kinder noch hätte kaufen können.
Bepackt mit allerlei Geschenken, blieb Dave stehen. Wieder fiel ihm etwas ein, was ihn stutzig und betroffen machte. Nun dachte er wie ein Onkel – oder älterer Bruder – weniger als Polizist.
Wieso fand er die Freundschaften, die seine Neffen und seine Nichte schlossen, ›obskur‹? Weshalb war ihm ausgerechnet dieser Begriff in den Sinn gekommen?
Vage erinnerte sich Dave, wie er den kleinen Ollie einmal zusammen mit ein paar älteren Jungen gesehen hatte, erst wenige Wochen zuvor. Ollie war von der elterlichen Wohnung viel zu weit weg gewesen, dennoch hatte Dave ihm bloß zugenickt und war mit dem Wagen weitergefahren. Nun, da er sich die Szene ins Gedächtnis zurückrief, glaubte er, auch Tina und Andy im Kreis der anderen Jungen gesehen zu haben – aber er hätte es nicht beschwören können. Er hatte sie höchstens am Rande wahrgenommen, nur verschwommen entsann er sich an sie, wie an einen halbvergessenen Traum.
Er fragte sich, ob seine Schwester und Wally ihre Kinder auch vergaßen, wenn sie bei der Arbeit waren. Er versuchte sich auf Ollies Kameraden zu konzentrieren, wie diese ausgesehen hätten, doch sie blieben gesichtslos. Lediglich ein Eindruck von Glattheit hatte sich in ihm festgesetzt, von Flinkheit und Raffinesse. Und noch etwas war ihm aufgefallen, nur, daß ihm der passende Ausdruck dafür fehlte. Dann fiel er ihm ein: Zusammenhalt. Das Grüppchen hatte gewirkt wie eine eingeschworene Gemeinschaft.
Dann wurde er wieder ganz Polizist, und sein Gespür sagte ihm, daß irgend etwas in dieser Wohnung nicht stimmte. Dave setzte seine Pakete ab und schickte sich an, in jedes einzelne Zimmer zu gehen.
Im Elternschlafzimmer fand er Wallys teuren, echt irischen Pullover zusammengeknüllt auf dem Fußboden liegen, wie ein totes Tier. Auf dem Läufer schwelte eine Zigarettenkippe, und es stank nach Schnaps. In diesem Augenblick wußte er, daß sein
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