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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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zwei müßt auf das Klingeln der kleinen Silberglocke warten.«
    Als sie allein waren, sprang Jo auf und sagte:
    »Ich dachte schon immer, daß du für ein Mädchen ganz schön gute Nerven hast!«
    Sein Verhalten war verzweifelt und seltsam; sie wußte, daß er sie um Hilfe bat.
    »Hier«, sagte er. »Lies diese Seite aus Papas Brief. Lies sie ihnen vor! Wenn du es nicht verstehst, Harald wird es todsicher tun.«
    Er hatte noch ein Geschenk, eine eher kleine Pappschachtel, die unbeholfen in amerikanisches Weihnachtsgeschenkpapier eingewickelt war.
    »Das ist für die ganze Familie«, sagte er.
    »Jo«, sagte sie, »Jo, wenn das heißt, daß du jetzt wegläufst, ist es sehr dämlich von dir.«
    »Mit Weglaufen hat das nichts zu tun«, sagte er. »Ganz im Gegenteil. Du kannst da auch hinkommen … wo ich hingehe. Ach, das hätte ich fast vergessen … Für Tante Helga.«
    Er angelte in der Tasche seines Sportmantels und zog den Schlüsselbund heraus. Dann schnappte er sich Muttis wunderschöne Reisedecke aus Vicuna und rannte aus dem Zimmer. Lucy hörte ihn nach oben gehen. Sie begann, die Seite aus Brief Nummer zwölf zu lesen, der vom November 1941 datiert war.
    »Ich habe eine Menge Bücher versteckt«, schrieb Papa, »um sie vor dem Feuer zu retten, das unser Land verzehrt. Ich denke an all die geheimen Orte, an denen Männer und Frauen, die guten Willens sind, jene versteckt haben, die verfolgt werden.
    Eine Mutter und ihre drei Kinder verbergen sich in unserem Haus, daran erinnert ihr euch hoffentlich noch. Ich kenne kaum die Namen der Kinder. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr werden sie in einem kleinen Raum hoch oben unter dem Dach versteckt. Sie haben gelernt, sehr still zu sein.
    Ich denke an die übergroßen und unmenschlichen Denkmäler, die dieser Kriegsherr und seine Henker in Deutschland errichtet haben. Diese prahlerischen Denkmäler werden in Staub und Asche zerfallen. Nur die geheimen Orte werden fortdauern und die Erinnerung, die Geister der Männer und Frauen und Kinder, die an diesen Orten Zuflucht gesucht haben, werden für immer dort anwesend sein.«
    Lucy war verwirrt und zu Tode erschrocken. Sie stand am Rand eines Abgrunds. Ein Laut begann zu ihr durch zudringen … es war das Klingeln der kleinen Silberglocke. Sie ging langsam durch den Flur, Jos Paket in den Händen tragend, aber sie konnte nicht unbemerkt ins Eßzimmer schlüpfen. Alle warteten, sogar Papa. Das Bild des wunderschönen Baumes prallte mit voller Wucht auf sie ein, genauso wie in ihrer Erinnerung, erstrahlte er im Glanz echter Kerzen. Sie sah die Streifen von Silberlametta, die bezaubernden Kugeln aus farbigem Glas, die Legionen von Holzengeln und den Silberstern an der Spitze.
    »Wo ist Jo?« riefen sie. »Aber wo ist denn Jo?«
    »Er mußte auf die Toilette«, sagte Lucy. »Er war nervös.«
    Alles lachte. Tante Helga hatte eine passende Redewendung: »Eine schöne Bescherung«.
    »Lucy«, sagte Harald, »was ist los?«
    Lucy stand immer noch da, unfähig, sich zu bewegen, und umklammerte das schlampig eingewickelte Paket. Die Szene begann sich so fließend im Zeitlupentempo zu entfalten, daß sie fast an das Eingreifen einer höheren Macht glauben konnte.
    Papa und Mutti standen neben ihren Stühlen am Eßtisch, der mit Tellern voller Süßigkeiten, Orangen und Nüssen bedeckt war, einen für jedes Familienmitglied. Tante Helga war die einzige, die saß, sie wedelte sich mit einem Papierfächer Luft zu, um nach ihren Anstrengungen einen weiteren Nervenzusammenbruch zu vermeiden. Harald entriß Lucy die Kopie des Briefes.
    »Jo sagte, du würdest es verstehen«, flüsterte sie.
    Sie ging langsam vorwärts, um nicht auf den Teppich niederzusinken. Sie legte den Schlüsselbund vor Tante Helga hin und stellte das Paket mitten auf den Tisch. Sie begann das Papier zu entfernen und stellte fest, daß ihre Vermutung richtig war. Das Paket roch furchtbar, es stank nach Staub und Verwesung. Sie wollte ihre Hände und Arme reiben, dort, wo sie das Einschlagpapier berührt hatten. Ihre Stimme war laut, nicht mehr unter Kontrolle.
    »Dies ist von Jo … für die ganze Familie.«
    »Ein Schlüssel fehlt!« sagte Tante Helga.
    »Was in Gottes Namen …?« sagte Papa.
    Lucy klappte den Deckel des Kartons zurück, aber sie konnte nur einen Gegenstand herausnehmen und stellte ihn auf das Damasttuch. Es war alt und entsetzlich fleckig und dunkle Fäden hafteten am Plüsch; es war ein Spielzeugtiger. Harald stieß einen knurrenden Laut aus

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