Fromme Wünsche
die Sache. Keine Firmenübernahme
ist so wichtig wie ein Menschenleben. Wenn es tatsächlich einen Zusammenhang
gibt und wenn du den gleichen Leuten in die Quere kommst - ich könnte es nicht
ertragen. Das mit Agnes ist schlimm genug.“
„Schon gut, Roger. Agnes war erwachsen, und ich
bin's auch. Wir machen unsere Fehler auf eigene Verantwortung. Ich gebe schon
auf mich acht. Ich glaube, das bin ich den Freunden, die sich um mich sorgen,
schuldig. Ich möchte ihnen keinen Kummer machen. Möglich, daß ich nicht an die
Unsterblichkeit der Seele glaube oder an Himmel und Hölle. Aber ich glaube,
daß wir auf unsere innere Stimme hören müssen.“
Er trank sein Glas leer. „Also gut, Vic. Dann setz
mich auf die Liste derer, denen du Kummer ersparen willst.“ Er stand
unvermittelt auf und ging. Sein Sandwich lag angebissen auf dem Teller.
11
Säuretest
Der Fort Dearborn Trust, Chicagos größte Bank, macht
sich an allen vier Ecken der Kreuzung Monroe/La Salle Street breit. Die
gewölbten, bläulich schimmernden Glaswände sind in Chicago allerletzter
architektonischer Schrei. Um zu den Lifts zu gelangen, muß man sich durch einen
Dschungel von Bäumen und Schlinggewächsen arbeiten. Nur mit Mühe entdeckte ich
den Lift zu den Geschäftsräumen der Anwaltskanzlei Feldstein, Holtz& Woods
im sechzigsten Stock. Zum erstenmal war ich vor drei Jahren hier gewesen, als
die Kanzlei die Räume bezog. Agnes war damals gerade als Partnerin in die
Sozietät aufgenommen worden, und gemeinsam mit Phyllis Lording half ich ihr,
die Bilder in ihrem riesigen neuen Büro aufzuhängen.
Phyllis lehrte Englisch
an der Universität Illinois-Chicago Circle. Ich hatte sie vom Kasino der
Ajax-Versicherung aus angerufen. Es war ein sehr schmerzliches Gespräch
gewesen, und Phyllis hatte ständig mit den Tränen gekämpft. Mrs. Paciorek
weigerte sich, ihr Ort und Zeit der Beerdigung zu nennen.
„Wenn man nicht verheiratet ist, hat man nach dem
Tod des Partners keinerlei Rechte“, bemerkte sie bitter.
Ich kündigte ihr meinen Besuch für den Abend an und
fragte, ob Agnes die Sache mit Ajax erwähnt habe oder weshalb sie mich hatte
sprechen wollen.
„Sie hat erzählt, daß sie mit dir und einem
Engländer essen war. Sie meinte, er habe eine interessante Frage aufgeworfen.
Aber an mehr kann ich mich im Augenblick nicht erinnern.“
Wenn Phyllis mir nicht weiterhelfen konnte, dann
vielleicht Agnes' Sekretärin. Ich hatte mich nicht angemeldet und platzte
mitten hinein in ein unglaubliches Chaos. In Maklerbüros sieht es ohnehin
immer wie nach einem Hurrikan aus, und die Makler halten sich mühsam ein
Plätzchen frei zwischen Papierbergen: Wirtschaftsberichten, Werbeschriften,
Jahresberichten. Erstaunlich, daß sie von dem ganzen Zeug immer genug gelesen
haben, um Bescheid zu wissen.
Wenn nun die Polizei noch versuchte, einen Mord
aufzuklären, dann wurden die Zustände einfach unerträglich - selbst für Leute
mit meiner Auffassung von Ordnung. Auf dem Weg zu Agnes' Büro fragte mich ein
junger Streifenbeamter, was ich dort zu suchen hätte. „Ich bin hier Kundin.
Ich möchte meinen Makler sprechen.“ Bevor er mir weitere Fragen stellen
konnte, brüllte ihm jemand aus der anderen Ecke einen Befehl zu, und er ließ
mich stehen.
Agnes' Büro war durch ein Seil abgesperrt.
Ermittlungsbeamten drehten jedes Blatt auf ihrem Schreibtisch um. Damit hatten
sie wohl bis Ostern zu tun.
Agnes' junge Sekretärin Alicia Vargas hockte
zusammen mit drei Textverarbeitungsspezialisten in einer Ecke. Die Polizei
hatte ihren Rosenholzschreibtisch ebenfalls mit Beschlag belegt. Sie sprang
auf, als sie mich kommen sah.
„Miss Warshawski! Haben Sie gehört, was passiert
ist? Es ist einfach furchtbar. Wer konnte nur so etwas tun?“
„Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?“
fragte ich.
Sie griff nach Tasche und Jacke, und wir fuhren
hinunter in die Cafeteria, die in einer Ecke des Hallendschungels versteckt
war. Ich hatte inzwischen Appetit bekommen und bestellte Corned beef auf
Roggenbrot - ein paar zusätzliche Kalorien zum Ausgleich für das fehlende
Mittagessen.
Miss Vargas' rundes braunes Gesicht war vom Weinen
verschwollen. Vor fünf Jahren, als sie gerade achtzehn war, hatte Agnes sie
von ihrer ersten Stelle im Schreibzimmer weggeholt. Seit Agnes in die Kanzlei
als Partner eingetreten war, arbeitete Miss Vargas für sie als Sekretärin. Sie
trauerte ehrlich, machte sich aber wohl auch Sorgen um ihre Zukunft.
„Wenn ich ins
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