Fromme Wünsche
einer Weile ließ
das Zittern nach. Ich fror zwar noch und meine verkrampften Muskeln taten weh,
aber das Schlimmste hatte ich überstanden.
Mühsam stand ich auf und ging steifbeinig ins
Schlafzimmer. Ich rieb die verätzten Stellen mit Vaseline ein, dann zog ich
meine wärmsten Sachen übereinander an und hockte mich, noch immer frierend, vor
den voll aufgedrehten Heizkörper.
Als das Telefon läutete, fuhr ich zusammen; mein
Herz klopfte wie rasend. Vor Angst zitterten mir wieder die Hände.
Erst beim sechsten Läuten wagte ich, den Hörer
abzunehmen. Es war Lotty.
„Lotty!“ stieß ich hervor.
Sie hatte wegen Agnes angerufen, merkte jedoch
gleich, daß etwas passiert sein mußte, und bestand darauf, zu mir zu kommen.
Meine Bedenken, der Attentäter könne noch draußen herumlungern, wischte sie
kurz angebunden weg: „Nicht bei dem Wetter. Und nicht mit gebrochenem Kiefer.“
Zwanzig Minuten später stand sie vor der Tür. „Soso,
Liebchen. Hast dich mal wieder in die Schlacht gestürzt.“ Minutenlang hielt
ich sie umklammert. Sie strich mir übers Haar und murmelte beruhigend deutsche
Worte, bis mir schließlich wärmer wurde. Ich mußte mich aus den
Kleiderschichten schälen, damit sie mit ihren kräftigen Fingern behutsam die
Vaseline von Hals und Rücken entfernen und die Ätzwunden fachgerecht versorgen
konnte.
„So, mein Schatz. Ist nicht besonders schlimm. Das
Ärgste war der Schock. Und du hast nichts getrunken? Gut. Alkohol bei
Schockzustand, das wäre ganz übel. Heiße Milch mit Honig? Prima. So viel
Vernunft hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Sie plauderte weiter, als sie mit mir in die Küche
ging, die verschüttete Milch vom Boden und vom Herd wischte und eine Suppe
aufsetzte: Linsen mit Karotten und Zwiebeln. Die würzigen Küchendüfte wirkten
belebend.
Als das Telefon klingelte, war ich darauf
vorbereitet. Ich ließ es dreimal klingeln, dann hob ich ab und stellte das
Tonband an. Es war mein Freund mit der unpersönlichen Stimme. „Was machen Ihre
Augen, Miss Warshawski? Oder vielmehr Vic. Es kommt mir vor, als würde ich Sie
schon lange kennen.“
„Wie geht's Ihrem Freund?“
„Ach, Walter wird's überleben. Allerdings machen wir
uns Sorgen um Sie, Vic. Das nächste Mal haben Sie vielleicht nicht mehr so viel
Glück. Also seien Sie brav, und lassen Sie die Finger von Rosa und von Sankt
Albert. Auf die Dauer ist das bestimmt gesünder für Sie.“
Ich spielte Lotty das Band vor. Sie fragte sachlich:
„Du erkennst die Stimme nicht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Aber irgend jemand weiß,
daß ich gestern im Kloster war. Und das kann nur eins bedeuten: Ein Dominikaner
muß mit der Sache zu tun haben.“
„Wieso das?“
„Man will mich aus dem Kloster vergraulen“, sagte
ich erregt. „Und nur sie wissen, daß ich dort war.“ Ich fing wieder an zu
zittern. Ein schrecklicher Gedanke war mir gekommen. „Nur sie und Roger
Ferrant.“
12
Trauerfeier
Lotty bestand darauf, bei mir zu übernachten. Als
sie am frühen Morgen in ihre Klinik fuhr, schärfte sie mir ein, gut auf mich
aufzupassen, aber die Ermittlungen nicht einzustellen. „Die Sachen, die du
anpackst, sind zwar immer eine Nummer zu groß für dich.“ Ihre schwarzen Augen
sahen mich besorgt an. „Vielleicht übernimmst du dich eines Tages. Aber so bist
du nun mal. Sonst wärst du ja unglücklich. Du hast dich für ein ausgefülltes
Leben entschieden. Jetzt können wir nur hoffen, daß es noch recht lange
dauert.“
Lottys Worte waren nicht dazu angetan, mich
aufzuheitern.
Nachdem sie gegangen war, lief ich hinunter in mein
Kellerabteil, zog mit schmerzenden Schultern Kartons voll alter Papiere
hervor und wühlte sie durch. Endlich fand ich, was ich gesucht hatte: ein zehn
Jahre altes Adreßbuch.
Dr. Thomas Paciorek und seine Frau wohnten am Arbor
Drive in Lake Forest. Zum Glück hatte sich ihre Telefonnummer, die nicht im
Telefonbuch stand, seit 1974 nicht geändert. Ich verlangte Dr. Paciorek oder
seine Frau, war aber doch erleichtert, als Agnes' Vater an den Apparat kam.
Ich hatte ihn zwar immer für einen kühlen, egozentrischen Menschen gehalten,
konnte ihm aber nicht vorwerfen, daß er sich mir gegenüber jemals so
feindselig verhalten hatte wie seine Frau. Die Probleme seiner Tochter schrieb
er ihrem angeborenen Eigensinn zu.
„Hier spricht V. I. Warshawski, Dr. Paciorek. Was
mit Agnes geschehen ist, tut mir furchtbar leid. Ich möchte gern zur
Beerdigung kommen. Wann findet sie denn
Weitere Kostenlose Bücher