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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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verrückt, und Chey hatte Angst, er
könne sich möglicherweise entzünden. Keinen weiteren Schritt wollte sie damit
tun, wenn es sich vermeiden ließ. Wäre Dzo stehen
geblieben oder hätte sie den Halt verloren, wären die Schmerzen
unerträglich gewesen, aber dazu ließ er es nicht kommen. Er war kleiner als
Chey, vielleicht zehn Zentimeter, doch seine Schulter fühlte sich so hart an
wie ein Felsen, und sie gewann den Eindruck, dass er sie mühelos hätte tragen
können. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, wer der Mann wohl war und woher er
kam. Sie fragte ihn, aber seine Antwort ergab nicht viel Sinn. »Ich kam vom
Wasser dort unten herauf«, erklärte er.
    »Nein, ursprünglich«, sagte sie und kam zu dem Schluss, in möglichst
wörtlichem Sinn mit ihm sprechen zu müssen.
    »O
je«, erwiderte er und spähte zu den Baumwipfeln hinauf, als versuche er sich zu
erinnern. »Das ist lange her. Ich glaube, damals gab es weniger Wasser. Es war
so trocken.« Er hob die Schultern. »Alles verändert sich, weißt du. Orte
verändern sich. Erst recht hier oben. Es hat den Anschein, als sei es jeden
Sommer anders.«
    Ihr Bein schmerzte zu sehr, als dass sie ihn noch weiter befragen
konnte. Ihrer Meinung nach reichte es, dass er da war und sie rettete, also
verfiel sie in Schweigen, während sie weitergingen.
    Sie folgten dem Lauf des plätschernden Bachs. Das Wasser war kalt und sehr klar. Rote Kiefernnadeln wirbelten
auf der Oberfläche, blieben an hervortretenden Baumwurzeln hängen und trieben weiter.
Insekten glitten über die Oberfläche oder schritten mit haardünnen Beinen, die
länger als ihre Körper waren, über das
Wasser. Keins der Tiere stach Chey, also achtete sie nicht weiter
darauf.
    Gar nicht so weit vom Bachlauf
entfernt verlief eine verlassene
Holzfällerstraße. Für Chey sah sie nicht nach viel aus – sie war
ungepflastert und musste, der rauen Oberfläche nach zu urteilen, lange nicht
benutzt worden sein. Größtenteils nur ein gewundener Weg, ein Streifen
abgefallener Kiefernnadeln, wo die Bäume nicht ganz so dicht beisammen wuchsen.
Sie musste sorgfältig hinsehen, um die Straße überhaupt zu erkennen, aber Dzo
versicherte ihr, dass das für die Tiere des Walds wie eine sechsspurige
Luxusautobahn war. »Ich habe da diesen Freund, der lebt nur zwanzig Klicks von
hier. Der kann dich schnell zusammenflicken«, erklärte er ihr, als sie wissen
wollte, wohin es ging.
    »Zwanzig Kilometer?«, keuchte sie. Mit ihrem Knöchel konnte sie sich
glücklich schätzen, noch zwanzig Schritte zu schaffen. Er nickte bloß und
versicherte ihr mit keiner Silbe, dass sie es schaffen konnte – und dann
führte er sie zur nächsten Lichtung, wo sein Kleintransporter parkte. Chey
verspürte eine solche Erleichterung, das Fahrzeug zu sehen, dass ihr Tränen aus
den Augenwinkeln rannen, so dehydriert sie auch sein mochte.
    Wie es aussah, würde sie wohl doch nicht in diesen Wäldern sterben.
    Außer seiner schieren Existenz hatte das Fahrzeug nicht viel
vorzuweisen. Die Karosserie war rostfarben, mehr braun als rot. Auf der
Ladefläche häuften sich Unrat, Blätter und organischer Abfall, und das Fenster
auf der Beifahrerseite war durch eine vergilbte Plastikplane ersetzt worden,
die von mehreren Schichten abblätterndem, durchsichtigem Klebeband
zusammengehalten wurde. Chey hatte noch nie zuvor ein so altes und hinfälliges
Fahrzeug gesehen, das noch fahrtüchtig war. Als Dzo den alten Schraubenzieher
drehte, der ins Zündschloss gerammt war, startete der Motor jedoch auf Anhieb,
und sobald sie unterwegs waren, griffen die mit Ketten versehenen Räder den
verschneiten Boden ohne Mühe.
    Sie rollten mit nicht mehr als fünfzehn Stundenkilometern über den
Pfad, Dzo hielt eine Hand leicht auf dem Lenkrad, während er mit den Fingern
der anderen Hand langsam und rhythmisch gegen die Außenseite der Tür klopfte,
als zähle er die Zeit mit. Der Weg war sehr verschlungen und schien sogar
wieder zurückzuführen. Chey hatte ständig den Eindruck, als würden die Bäume
näher rücken und ihr Vorankommen völlig aufhalten, aber dann bogen sie um eine
Ecke, Äste kratzten über das Wagendach, und der Weg vor ihnen war wieder frei.
Dzo sagte kein Wort, und Chey wusste auch nicht viel zu sagen. Bevor sie sich
versah, hatte sie den Kopf zurückgelegt und war eingeschlafen.
    Als der Kleintransporter bremste, flog ihr Kopf nach vorn, und sie
erwachte ruckartig. Eine Sekunde lang konnte sie sich nicht mehr erinnern, wo
sie

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