Frostblüte (German Edition)
durfte nicht nachgeben. Ich musste diese Gefühle unterdrücken, sie in den harten schwarzen Knoten aus Verzweiflung pressen, der unter meinen Rippen lauerte. Ich konnte mir jetzt nicht erlauben, die Kontrolle zu verlieren, nicht einmal für einen Augenblick.
»Ich kann dir nicht helfen«, sagte ich, so leise und ruhig, wie ich konnte. »Ich kann niemandem helfen. Nicht einmal mir selbst.«
»Warum?«, wollte Luca wissen. »Ich verstehe, wenn du das Gefühl hast, nicht mehr kämpfen zu können, aber das bedeutet nicht, dass du uns verlassen musst. Du bist noch immer eine von uns, oder? Du hast selbst gesagt, dass es nicht ewig so sein wird, dass es uns eines Tages gelingen wird, Ion gefangen zu nehmen, und wir dann noch den Rest unseres Lebens vor uns haben. Glaubst du nicht mehr daran?«
Mein Hals und meine Schultern, jeder Knochen meines Kopfes schmerzten vor Anspannung – von der Anstrengung, mich nicht von Lucas Worten einlullen zu lassen. »Du bedeutest mir viel, Luca. Mehr als irgendjemand in meinem Leben. Ich würde alles für dich tun. Ich würde für dich sterben.«
Überraschung, Glück und Verwirrung huschten über Lucas Gesicht – wie Wolken vor der Sonne. Er streckte die Hand nach mir aus.
Ich wich zurück. »Und deshalb muss ich gehen. Ich habe mich hier mit dir verändert. Meine Gefühle sind wie Wasser, das gegen einen Damm drückt. In dem Moment, in dem ich ihnen nachgebe, mache ich den Weg frei für den Wolf. Ich kann nicht bei dir bleiben. Nicht, ohne dich und alle anderen hier in Gefahr zu bringen.«
Das Glück erlosch auf Lucas Gesicht, zurück blieb Müdigkeit und Anspannung. »Wo wirst du hingehen, Frost? Wo kannst du schon hinlaufen, um vor dir selbst sicher sein? Wenn du dich dem jetzt nicht stellst, wirst du bis ans Ende deines Lebens auf der Flucht sein. Zu verängstigt, um zu kämpfen. Zu verängstigt, um zu lieben. Du wirst deine eigene Gefangene sein. Und du wirst niemals frei sein.«
Die Worte trafen mich mit dem schrecklichen Gewicht einer Prophezeiung. Ich starrte ihn verzweifelt an.
Eine vertraute Stimme durchbrach die angespannte Stille, sie sang am Lagerfeuer die ersten Zeilen eines der alten Lieder der Urmutter.
Arian.
»Sie haben mich offenbar aufgegeben.« Luca seufzte und rieb sich müde die Stirn. »Ich wollte dich holen. Wir versammeln uns am Lagerfeuer, um die Toten zu ehren. Kommst du mit? Bitte?«
Andere Stimmen und Instrumente schlossen sich nun Arians Gesang an. Die Musik zog mich an wie beim ersten Mal, als ich sie hörte. Doch sie war nicht für mich. War es nie gewesen. Ich schüttelte den Kopf. »Sie wollen mich dort nicht dabeihaben.«
»Ich will dich dabeihaben.« Luca hielt mir die Hand entgegen, die Sorgenfalten auf seinem Gesicht ließen ihn Jahre älter aussehen.
Meine Finger zuckten, meine Hand sehnte sich danach, ihn zu berühren. Ich hob sie – und umfasste den Wolfszahn. Die scharfe Spitze bohrte sich tief in meine Handfläche. Ich genoss den Schmerz.
Wir starrten beide noch immer auf seine ausgestreckte Hand. Langsam schlossen sich seine Finger zu einer Faust und er ließ den Arm sinken.
»Man bekommt nicht immer, was man will«, sagte ich.
»Nein. Aber man kann das festhalten, was man hat«, sagte er sanft. »Versuch nicht fortzulaufen, während ich weg bin, sonst laufe ich dir hinterher. Wir sind noch nicht fertig.«
Ich nickte kurz.
»Sag es.«
Ich biss die Zähne zusammen, er trieb mich in die Enge. »Versprochen.«
»Das genügt mir.« Er lächelte mich angespannt und traurig an – es war nur ein Abklatsch seines normalen goldenen Strahlens. Dann verließ er das Zelt.
Ich atmete tief aus. Verflixt. Nun saß ich hier mindestens noch eine Nacht in der Falle. In der Falle, in der mich niemand haben wollte, nicht mal ich selbst. Nur Luca.
Arians Stimme hallte durch die dünnen Zeltwände, verschmolz mit der klagenden Holzflöte, dem langsamen Rhythmus der Trommel. Ich meinte sogar das Knistern und Flüstern der Flammen zu hören, auch wenn das eigentlich nicht sein konnte. Die Musik zog mich an, lockte mich. Doch ich wusste, was ich sehen würde, wenn ich nachgab. Die Augen von Freunden, die voller Hass und Misstrauen waren. Geliebte Gesichter, die sich in Masken des Abscheus verwandelt hatten. Meine Kameraden, die vor mir zurückschreckten.
Ich würde keine Familie sehen, sondern nur die Tatsache, dass ich eine Ausgestoßene war.
Ich ging auf und ab und versuchte den Ruf der Flammen und singenden Stimmen zu überhören. Ein
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