Frostblüte (German Edition)
Dutzend Mal wanderte mein Blick zu dem halb versteckten Bündel und ich drehte schnell den Kopf weg. Ich durfte mein Versprechen nicht brechen. Aber ich hätte es gern getan. Oh, wie gern ich es getan hätte.
»Leb wohl, mein Lieb, es ist so weit,
so gern ich bleiben möcht …«
Ich saß reglos da, die schmerzlich vertraute Melodie des Liedes im Ohr.
Mein Vorsatz löste sich in nichts auf.
Fast unbewusst schlug ich die Zeltplane zurück und trat in die immer dunkler werdende Abenddämmerung. Der Schein des Feuers der Urmutter flackerte zwischen den Zelten, ich hörte die singenden Stimmen, die mich durch das verlassene Lager zur Feuerstelle zogen.
»Es ist so weit, mein einzig Lieb,
weit fort ruft mich die Pflicht …«
Kurz bevor ich das Feuer erreichte, meldete sich ein verspätetes Gefühl der Vorsicht. Ich blieb neben einem der großen Zelte stehen und spähte durch den Spalt zu den Bergwächtern, die sich um die weiße Feuerstelle versammelt hatten. Niemand saß auf den Stämmen, obwohl an diesem Abend alle hier waren, die sich von ihrem Lager erheben konnten. Meine Augen suchten nach Luca und fanden ihn schließlich neben Arian, ihre Schultern berührten sich fast. Trotz der Unterschiede in ihrem Äußeren sahen sie in diesem Moment fast gleich aus – gerade aufgerichtet, die Gesichter ernst beim Singen, die Augen voller Feuer.
Hind stand auf der anderen Seite neben Luca. Selbst im goldenen Flackern des Feuers sah sie bleich und krank aus. Um ihren Kopf war ein dicker Verband gewickelt, der ein Auge bedeckte. Sie lehnte sich in Lucas Umarmung, als müsse sie gestützt werden.
Als ich den Blick von Lucas Hand abwandte, die sanft Hinds Taille umfasst hielt, merkte ich, dass Rani mir fast gegenüberstand. Wenn sie aufsah, würde sie mich entdecken. Ich wich vorsichtig in den Zeltschatten zurück und war dankbar für die Dunkelheit, die mich verbarg. Die Rua-Heilerin sah fast genauso abgekämpft und müde aus wie Hind; sie starrte in die Flammen, als suche sie darin nach einer Antwort. Neben ihr war ein schmerzlich leerer Platz. Dort hätte Livia stehen sollen.
Der Wolfszahn fühlte sich in meiner Hand wie ein Eiszapfen an.
Ich unternahm keinen Versuch zu singen. Es war kein Platz für meine Stimme in dieser Musik, in diesem Lied von Macht und Trauer, diesem Gebet an eine Göttin, die ich noch immer nicht verstand. Ich starrte auf den dunkelblauen Mittelpunkt des Feuers, wo sich die Farben kräuselten und tanzten, Wasser ähnlicher als Feuer.
Das Flackern wurde ruhiger, die spitzen Flammenzungen länger, Tiefblau färbte sich zu Weiß, zu Silber, bis die Flammen einer Krone aus Eiszapfen ähnelten, die eisig-heiß in der Feuerstelle brannte. Ein warnender Schauder lief mir über den Rücken. Instinktiv wandte ich den Blick von den Flammen.
Lief vor meiner Angst davon, wie ich es immer getan hatte.
Wo wirst du hingehen, Frost? Wo kannst du schon hinlaufen, um vor dir selbst sicher zu sein?
Zum ersten Mal hatte ich ein Leben, das ich nicht zurücklassen wollte. Ich hatte Freunde. Ich hatte Liebe. Ich hatte … mich. Alles, was ich mir je gewünscht hatte. Dieses Mal wollte ich nicht davonlaufen. Ich wollte nicht wegsehen. Ich umklammerte verzweifelt den Wolfszahn. Ich fühlte, wie er mit einem scharfen Schmerz meine Haut durchbohrte. Blut rann über meine Hand.
Vater. Bitte. Hilf mir.
Der einsame Schrei des Wolfs hallte durch die Nacht, ein Schrei, den nur ich hören konnte. Jede Faser meines Körpers drängte mich zu fliehen.
Du wirst bis ans Ende deines Lebens auf der Flucht sein. Zu verängstigt, um zu kämpfen. Zu verängstigt, um zu lieben.
Das Heulen des Wolfs war nun lauter. Näher.
Vater, warum antwortest du mir nicht? Warum höre ich dich immer nur in meinen Albträumen?
Vater?
Hatte Luca Recht? Hatte ich die Wahl? Hatte ich eine Seele? Hatte ich ein Recht, zu seiner Göttin zu beten und auf eine Antwort zu hoffen? Mein Bedürfnis danach war nie größer gewesen als in diesem Augenblick. Ich konnte so nicht weiterleben. Wenn ich Luca verlassen musste, gab ich jede Hoffnung auf Glück oder ein normales Leben auf. Ich gab den Glauben auf und Liebe und Hoffnung. Dann konnte ich ebenso gut sterben.
Vor meinem Mund bildete sich eine Atemwolke und ich spürte, wie das Blut auf meiner Handfläche anzufrieren begann. Aus meinem Haar rieselten Eiskristalle, während von dem Feuer blaue Funken zu den aufgehenden Sternen aufstiegen. Zur Urmutter.
Du wirst niemals frei sein.
Mit einer
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