Frostblüte (German Edition)
flacher und mit ihm verschwand das tröstliche Gewicht des starken Armes, den mein Vaters um mich gelegt hatte. Ich schrie auf und versuchte mich an ihm festzuklammern, doch er war schon wie Nebel durch meine Finger geglitten.
Ich stand mitten auf einer großen, überfrorenen Ebene. Die sternenbesetzte Halbkugel des Himmels wölbte sich über mir. Der Wind, der über die Ebene pfiff, wirbelte einen feinen Schneeschleier auf. Wolfsgesang hallte durch die Nacht.
Es war mein Albtraum.
Grauen überwältigte mich. Mein Kopf war plötzlich leer. Ich tat das Einzige, was mir einfiel.
Ich rannte.
Hinter mir hallte das Geheul, sang von der Jagd, sang von Blut auf dem Schnee, sang von der Angst ihrer Beute im Wind. Ich war ihre Beute. Und sie kamen näher.
Die Ebene verschwamm vor meinen Augen. Das einzig Reglose waren die Sterne. Mein Herz schmerzte und pochte gegen die Rippen, als wolle es ebenfalls fliehen. Meine Gliedmaßen waren schon schwer und taub. Wie weit konnte ich noch rennen?
Sie holten mich ein. Ich konnte nicht schnell genug davonlaufen. Sie holten mich immer ein.
Sie holten mich immer ein …
Ich blieb wankend stehen und atmete so tief ein, dass ich fast erstickte. Meine Beine zitterten, bereit zu fliehen – so wie ich es immer getan hatte. Doch ich konnte dem Wolf nicht entkommen.
Ich musste bleiben und kämpfen.
Ich wandte mich zu den dunklen Gestalten um, die über die Ebene auf mich zukamen. »Diese Mal gebe ich nicht auf«, sagte ich. »Ich werde nicht mehr vor euch davonlaufen.«
Ich spürte ein vertrautes Gewicht in meiner Hand. Als ich nach unten blickte, sah ich, wie die Axt meines Vaters Gestalt annahm.
»Dad«, rief ich und beobachtete, wie die weit entfernten Wölfe immer näher kamen; ihre langen schwarzen Körper rannten durch den Schnee. »Du hast gesagt, dass du mir beibringen wirst, gegen die Wölfe zu kämpfen.«
»Das werde ich auch tun«, sagte mein Vater und stand plötzlich neben mir. In seinem Lächeln lag Stolz, als er zu mir herunterblickte. »Gib mir jetzt meine Axt, Saram.«
Etwas widerwillig hob ich die Waffe und reichte sie ihm. Dad nahm sie mit einem Seufzen, umfasste mit beiden Händen den Schaft und schwang die Axt zischend durch die Luft. »Es ist zu lange her, dass ich sie in der Hand hatte. Bleib hinter mir, Kind, und beobachte, was ich tue.«
»Aber –«, setzte ich an. Bestimmt sollte doch ich kämpfen?
Da bedeutete er mir mit einer Geste zu schweigen. »Schau!«
Die Wölfe ließen ein lautes Heulen hören, die Stimmen verschmolzen zu einer. Ihre dunklen Umrisse schienen zu zerlaufen, zusammenzufließen und wie Blut über den Schnee zu rinnen. Dann war es kein Wolfsrudel mehr, sondern nur noch ein riesenhafter Wolf, dessen Schultern so breit waren wie meine.
Mein Wolf.
Seine gewaltigen Klauen wirbelten Schnee auf, als er auf uns zurannte. Er umkreiste uns und ich musste mich ständig drehen, um ihn im Blick zu behalten. Mein Vater stellte sich mit kampfbereiter Axt vor mich. Der Wolf heulte wieder und wie zuvor in meinen Träumen erkannte ich Worte in seinem Ruf. Worte, die mit Garin Aeskaars Stimme gesprochen wurden. Nun ergab es Sinn – wie sonst sollte ein Wolf sprechen als mit der Stimme des menschlichen Geistes, der mit dem seinen verschlungen war?
Du hast mich herbeigerufen, Tochter. Bist du endlich bereit, meine Stärke anzuerkennen?
»Sie ist nicht deine Tochter!«, rief Garin. »Das hier ist mein Mädchen!«
Tiefes, höhnisches Gelächter hallte mir im Ohr.
Es ist meine Stärke, die sie am Leben hält, mein Geist, der sie atmen lässt. Du bist bloß ein Sterblicher. Sie hat es mir zu verdanken, dass sie so viel mehr ist als das. Sie ist ebenso meine Tochter wie deine.
Mein Vater öffnete den Mund, doch bevor er sprechen konnte, rief ich: »Du willst mein Vater sein? Warum hast du mir dann so viel Leid zugemutet? Warum hast du mein Leben zerstört und mich gezwungen, von allem wegzulaufen, das mir etwas bedeutet hat?«
Es ist deine eigene Schwäche, die dir Kummer bereitet hat. Das Einzige, was zählt, ist die Jagd. Das Töten, der Geschmack von Blut. Vertreib die Schwäche aus deinem Geist und du wirst die größte Jägerin, die größte Kriegerin, die es je gab. Ich werde dich dazu machen.
»Schweig, Bestie!«, brüllte Dad, sein Gesicht zorngerötet.
»Nein, Dad!«
Es war schon zu spät. Die Wut hatte meinen Vater bereits überwältigt. Er stürzte sich auf den Wolf und ließ die Axt niedersausen. Das Geschöpf schien seine
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