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Frostblüte (German Edition)

Frostblüte (German Edition)

Titel: Frostblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Marriott
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sich an, als hätte man mir in einem Theaterstück die Rolle von jemand anderem gegeben. Ich wusste, was ich sagen und tun musste, trotzdem wartete ich auf die richtige Schauspielerin, die mich wieder in meinen angestammten Part drängen würde.
    Luca und ich rollten die Leichen der Räuber an den Rand der Lichtung und schürten das Feuer, damit sich die zitternden Frauen – Mala und ihre Tochter Crina – aufwärmen konnten. Er holte aus seinem scheinbar unerschöpflichen Bündel Verbände und kleine Tongefäße mit Wachsstöpseln und ich half den Frauen, ihre Schnittwunden und Blutergüsse zu säubern und einzusalben. Um Crinas verstauchten Knöchel wickelte ich eine Binde. Meine Finger bewegten sich schnell und geschickt, ich schien nichts von der Ausbildung meiner Mutter vergessen zu haben.
    Luca verband in der Zwischenzeit – wesentlich weniger ordentlich – die Wunden des noch immer bewusstlosen Birkin, anschließend fesselte er ihn an einen Baum in der Nähe.
    »Ich lasse ihn später von jemandem holen«, sagte er, als ich ihn fragend ansah.
    »Was, wenn ein Bär oder eine Raubkatze von dem Blut angelockt wird?«
    Luca zuckte die Achseln. »Ihm bleibt noch eine Menge Tageslicht. Und ein Raubtier wird sich zuerst über das tote Fleisch hermachen. Es gibt im Moment wichtigere Dinge, um die ich mich kümmern muss.«
    Wir trieben die Schafe aus dem Pferch der Räuber und begleiteten Mala und Crina zu ihrem Hof, einem kleinen Stück Land, das sie dem Berg abgetrotzt hatten. Es war kein weiter Weg. Die Familie war mehr oder weniger auf der eigenen Türschwelle in den Hinterhalt geraten. Zwei dunkelhaarige Jungen, ungefähr in meinem Alter – vermutlich Zwillinge, wenn auch nicht eineiig –, rannten sofort auf uns zu, als wir in Sichtweite des kleinen Hauses kamen. Ihre Eltern hatten ihnen offenbar aufgetragen, den Hof zu hüten, solange sie weg waren. Ich sah, wie ihre hübschen Gesichter vor Grauen erbleichten, als sie den Zustand ihrer Mutter und ihrer Schwester wahrnahmen und vergeblich nach ihrem Vater und ihrem Bruder Ausschau hielten. Sobald wir das Vieh sicher in den Stall gesperrt hatten, gingen die zwei jungen Männer mit Luca los, um die Leichen ihrer ermordeten Angehörigen zu holen und zu begraben. Ich blieb bei den trauernden Frauen.
    Mala drängte mich, auf einem der Holzstühle am Feuer Platz zu nehmen. Sie eilte hin und her, ihre Stimme war forsch und ein wenig zu schrill, als sie mir Tee und Honigkuchen anbot. Crina setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber und wiegte sich, die Hände auf die Knie gepresst, leicht hin und her. Ihre Finger zuckten und streckten sich, als kämpfe sie noch immer gegen die Seile an, die einen Abdruck auf ihren Handgelenken hinterlassen hatten.
    Mala und Crina waren an diesem Morgen als normale Familie mit den üblichen Sorgen und Pflichten zum Markt aufgebrochen. Gegen Mittag hatte man sie in eine Welt aus Blut und Schreien und unvorstellbarem Grauen gestürzt. Nun waren sie wieder zu Hause. Doch es war nicht das gleiche Heim. Es würde nie wieder das gleiche sein; nichts würde für sie je wieder wie zuvor sein. Das, was geschehen war, hatte sie für immer verändert. Ihre Familie war so schnell zerschmettert worden wie ein Tongefäß von einem achtlosen Kind. Dunkelheit und Trauer füllten die Leere, die jene hinterließen, die sie geliebt hatten.
    Einige Stunden später kehrten Luca und die Zwillinge schlammverschmiert und erschöpft zurück. Ich war erleichtert, als einer von ihnen sogleich seine Mutter aufforderte, sich hinzusetzen und eine Tasse des Tees zu trinken, den sie zubereitet hatte. Der andere legte eine Decke um Crina und flüsterte ihr sanft etwas zu, bis ihre verkrampften Hände aufhörten, die Knie zu umklammern. Diese beiden würden sich um Mutter und Schwester kümmern. Sie waren gute Jungen.
    Luca hatte mit mir über gute Menschen gesprochen. Er hatte gesagt, dass er und seine Männer »die Guten« seien. Ich hatte seine Worte verächtlich abgetan und mir gesagt, dass es so etwas wie gute oder schlechte Menschen nicht gab. Doch wenn ich jetzt an die abscheuliche, gedankenlose Grausamkeit der Räuber dachte, die dieser Familie so unendlich viel Leid zugefügt hatte, wusste ich, dass es eine Lüge war. Ich hatte mich an die Unwahrheit geklammert, weil es einfacher war, als mir einzugestehen, wovor ich mich fürchtete. Wovor ich mich in meinem Herzen schon immer gefürchtet hatte.
    Dass ich nicht zu den Guten gehörte.
    Luca lehnte sich müde an

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