Frostblüte (German Edition)
von den Ketten niedergedrückt wurde, bäumte sich unwillkürlich auf, als ein Teil der Wand einstürzte. Kalte Luft fegte in die Scheune. Das Feuer loderte auf.
Eine große, vierschrötige Gestalt, deren Gesicht mit Stoff verhüllt war, sprang durch den Spalt, in der einen Hand schwang sie einen Hammer, in der anderen ein Stemmeisen. Sie rannte durch den Qualm auf mich zu. Ich duckte mich.
Jemand hatte beschlossen, dass das Feuer zu gnädig für mich war.
Die Gestalt beugte sich über mich. Aus dem Stoff tropfte eiskaltes Wasser auf mein Gesicht, was mich zusammenzucken ließ. Ich erkannte die freundlichen Augen und die angesengten Augenbrauen über dem Stofflappen. Eilik.
Er rammte das Stemmeisen in eine der Ketten und ließ den Hammer niedersausen. Das tat er drei Mal. Beim letzten Schlag löste sich die Kette und fiel ab.
»Schnell, Mädchen!«, schrie er gegen das Knistern und Zischen des Feuers. »Bevor das Dach einstürzt!«
Er packte mich an den Armen und zog mich auf die Füße. Meine Muskeln verkrampften sich und zuckten und beinahe wäre ich gestürzt. Er nahm mich auf die Arme, als wöge ich nichts, als würde ich nicht nach Dreck und Urin und nach Schimmel stinken. Seine Hände waren so warm wie die Luft, die aus seiner Schmiede strömte.
Mein Gesicht an seine Brust pressend rannte er mit mir in die Dunkelheit hinaus, trug mich von der brennenden Scheune weg, aus dem Dorf, zum Waldrand, wo das Licht blau und dämmrig war. Unter den Bäumen warteten zwei blasse Gestalten. Ich erkannte Dolla, das Maultier meiner Mutter. Sie war mit Taschen und Kisten beladen, die aufs Geratewohl an ihrem Sattel festgebunden worden waren. Neben Dolla stand meine Mutter. Sie trat einen Schritt vor, als Eilik mich vor Anstrengung keuchend auf Dollas Rücken hievte. Dort lag ich, rang nach Luft und atmete den sauberen Pferdegeruch von Dollas Mähne ein, nahm die Wärme ihres breiten Rückens auf. Sie bewegte sich unter mir, gab jedoch keinen Laut von sich. Braves Pferd.
Ma streckte die Hand aus. Nicht nach mir, sondern nach Eilik. Neben seinem sonnengebräunten Unterarm wirkte ihre Hand sehr weiß.
»Danke«, flüsterte sie.
»Ich brauche keinen Dank«, erwiderte er schroff. Er drehte sich zu mir, doch im Dunkeln konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Es ist nur die Angst, die sie dazu gebracht hat, aus einer Kinderprügelei einen Albtraum zu machen. Sie sehen ihre eigenen, geheimen Dämonen. Ich sehe bloß ein kleines Mädchen. Geht von hier weg, weit weg, wo sie euch nicht finden können, und fangt neu an.« Einen Augenblick später war er verschwunden.
»Ma«, flüsterte ich. Meine Stimme knisterte und zischte wie das Feuer. Ich streckte die Hand nach ihr aus. Ich wollte Trost, wollte irgendetwas, das mir helfen würde, das Grauen des soeben Geschehenen aus meinen Gedanken zu verdrängen.
Sie wehrte meine Hand ab. »Nicht.« Ihre Stimme war leise und gebrochen.
Als sie Dolla in den Wald führte, begann ich wieder zu zittern.
Lucas Hand lag leicht auf meinem Rücken, als wir über den Hof zu dem Pfad gingen, der von Malas und Crinas Haus wegführte. Die Hitze seiner sonnenwarmen Haut drang durch mein Hemd. Ich holte tief Luft, um wieder ruhig zu werden. Mit jedem Schritt versuchte ich den Mut aufzubringen, ihn zu fragen, was nun mit mir geschehen würde: Was taten sie hier mit Menschen wie mir? Ich brachte die Kraft nicht auf. Die Worte blieben wie trockene Brotkrumen in meiner Kehle stecken. Ich hatte versprochen mit ihm zu gehen und nicht wieder davonzulaufen, und dieses Versprechen würde ich halten, selbst wenn jeder Muskel meines Körpers zitternd nach Flucht verlangte. Weiter reichte meine Tapferkeit allerdings nicht.
Ich war überrascht, als Luca stehen blieb und sich auf die niedrige Steinmauer setzte, die den Hof der Familie umgab. Von dort konnte ich das ganze Grundstück überblicken, auch die zwei dunklen Erdhügel unter den Bäumen auf der einen Seite des Hauses. Jeder war mit einem Ring aus weißen Steinen gekrönt. Die Gräber des Bauern und seines Sohnes. Nicu und Abhay.
»Setz dich«, sagte Luca und deutete mit einer Hand auf einen umgefallenen Baumstamm, während er mit der anderen sein Bündel abnahm und es auf die Erde stellte.
Ich gehorchte und beobachtete unruhig, wie er den Gurt abschnallte, der die Scheide seines Schwerts auf dem Rücken hielt. Er seufzte und streckte sich, dann legte er das Schwert mitsamt der Scheide quer über seine Knie.
»Nun kenne ich also endlich
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