Frostengel
aber wahr, mit der Rückgabe der Taschentuchpackung aufgebraucht – und selbst das war eine Fügung des Schicksals gewesen. Aber dann kam mir eine Idee. Ob sie gut war, würde sich erst zeigen, wenn ich sie ausprobierte. Mehr, als dass ich mich vor Leon bis auf die Knochen blamierte, konnte mir schließlich nicht passieren, sagte ich mir – und das wäre nicht das erste Mal. Was hatte ich schon zu verlieren?
12. Februar 2012
Früher sah ich die Schule als notwendiges Übel an. Man muss halt hingehen, was lernen, einen Abschluss machen, damit man studieren kann oder um einen guten Job zu bekommen. Sie war für mich Treffpunkt und Kommunikationszentrum und diente dazu, den Tag irgendwie sinnvoll zu verbringen – was sollte man sonst mit sich anfangen? Bisher freute ich mich auf die schulfreien Tage, weil ich endlich Zeit hatte, mich mit den Dingen zu beschäftigen, die mir richtig Spaß machen. Doch jetzt ist jedes Wochenende eine Belastung, weil es schlimm für mich ist, mit meinen Eltern zu Hause zu sein und unwissend zu tun. Ich habe gestern meinen Vater auf Melissa angesprochen, besser gesagt, auf ihre Schwangerschaft. Das hätte ich mir besser sparen sollen, denn das Einzige, was ich damit erreichte, war ein Vortrag über Verhütung, einer von vielen. Ich kenne den auswendig, so oft habe ich ihn schon gehört. Bla, bla, bla. Schließlich fragte ich ihn, warum sich eine Person umbringt, nur weil sie schwanger ist? Ein Kind wäre doch ein Grund mehr, leben zu wollen.
Den Blick, den mein Vater mir zuwarf, kannte ich genauso gut wie seine Vorträge. Den setzt er immer auf, wenn ich seiner Meinung nach eine besonders kindische Frage stelle. Trotzdem gab er mir zur Antwort, dass es nicht immer reine Freude sei, ein Kind zu erwarten. Als ob ich das nicht wüsste. Warum hat Melissa dann keine Abtreibung machen lassen?, fragte ich.
Die Antwort ist einfach. Er meinte, sie wollte es kriegen, bloß der Vater nicht. Sein Gesicht verzog dabei keine Miene. Stattdessen machte er auf besonders verständnisvoll – der ist so was von scheinheilig!
Meine Mutter kam später von einem Besichtigungstermin nach Hause und ihre größte Sorge war, wie es mir ging. Jedes Mal! Die gleichen Fragen, der gleiche Blick. Ich kann ihre Fürsorglichkeit kaum mehr ertragen! Hast du Hunger? Brauchst du etwas? Geht es dir gut? Ich habe keinen Hunger und mir geht es nicht gut. Ob ich was brauche? Wie wär’s mit einem neuen Vater?
Ich war so knapp dran, ihr von meinen Vermutungen zu berichten. Nur damit sie etwas hatte, das sie mehr beschäftigte als ich. Doch da klingelte mein Handy. Tessa wollte sich mit mir im Einkaufszentrum treffen. Am liebsten hätte ich mich in meinem Zimmer verkrochen und wäre nie wieder irgendwohin gegangen. Meine Ängste werden nicht weniger, sondern mehr. Aber sie sagte, es würde mir helfen, wenn ich mich dazu zwinge, unter Menschen zu gehen. Klingt vernünftig. Wem soll ich sonst glauben, wenn nicht meiner besten Freundin? Trotzdem hätte ich mich nicht überwinden können, wenn Mama nicht versprochen hätte, uns abzuholen. Nicht einmal Tessa kann verhindern, dass ich wieder eine Panikattacke bekomme, so wie neulich. Ich schwöre, wenn ich das noch einmal erleben muss, sperre ich mich wirklich in meinem Zimmer ein, wo ich die Schatten, die mich verfolgen, wenigstens kenne.
Kapitel 13
Ich stand in der Buchhandlung auf der Fußgängerzone und rief mir ins Gedächtnis, welche Autoren Leon mir gegenüber erwähnt hatte. Ein Buch nach dem anderen nahm ich in die Hand und las den Rückentext. Es gab so viele. Woher sollte ich wissen, welche er schon kannte? Da trat eine junge Verkäuferin an mich heran. »Darf ich helfen?«
»Ich suche etwas für einen Freund. Der liebt dieses Zeug, aber ich weiß nicht, was er schon hat.«
»Dann ist es natürlich schwierig«, gab sie zu. Sie nahm ein Buch aus dem Regal und drückte es mir in die Hand. »Wie wär’s damit? Haben wir gestern reinbekommen. Es ist gerade erschienen und die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Freund es gelesen hat, ist eher gering.«
Auf dem Cover war ein zusammengebundenes Kissen. Die Inhaltsangabe klang noch dazu recht spannend. Einen Vorwand hatte ich nun. Jetzt musste ich nur noch den Mut aufbringen, bei Leon zu klingeln.
Vor dem Tor ließ ich meinen Finger über dem Klingelknopf schweben. Bloß nicht nachdenken! Mach es wie damals, als du für die Schwimmprüfung vom Dreimeterbrett springen musstest, redete ich mir gut zu. Ich war eine gute
Weitere Kostenlose Bücher