Frostengel
eines.
»Julia, wo hast du sie hingetan?«, flüsterte ich vor mich hin. Vielleicht war es ihr zu dumm geworden, mit der Hand zu
schreiben, und sie war dazu übergegangen, ihre Aufzeichnungen am Computer zu verfassen. Sollte ich es wagen? Ich kannte ihr Passwort. Soweit ich wusste, hatte Julia es nie geändert, obwohl ich sie jedes Mal damit aufzog, dass ich eines Tages all ihre Geheimnisse lesen würde. Wer hätte gedacht, dass es jemals wirklich dazu kommen würde? Ich schaltete den Laptop ein und wartete darauf, dass er hochfuhr. Wie sehr hatte ich sie um ihren Computer beneidet! Er war neu und schnell. Julia hatte in ihrem Zimmer sogar einen Internetanschluss, während ich nur mit einem Prepaid-Stick surfen konnte, den ich aufladen musste, wenn mein Guthaben aufgebraucht war.
Auf dem Desktop waren unzählige Ordner und Dateien. Es dauerte eine Weile, bis ich mich durchgeklickt hatte, aber auch da war nichts. Was sollte ich noch versuchen? Ich war doch nicht hergekommen, um mit leeren Händen zu gehen. Fieberhaft durchforstete ich mein Hirn nach weiteren Möglichkeiten und plötzlich wusste ich, was ich tun konnte. Unter »Eigene Dateien«, die nicht am Desktop sichtbar waren, hatte sie einen Ordner gespeichert, den sie »Tessa« genannt hatte. Niemand sonst nannte mich bei diesem Spitznamen. Aufgeregt öffnete ich mit einem Mausklick den Ordner.
Ein paar Fotos waren darin, nichts Wichtiges: das letzte Faschingsfest in der Schule, als wir uns als Zwillinge verkleidet hatten; sie und ich im Schwimmbad, wo ich ihr mit Sonnencreme ein Herz auf den Rücken gemalt hatte; Urlaub in Spanien – erst nach endlosen Diskussionen mit meiner Mutter durfte ich mit den Mechats mitfahren; unser Baumhaus am Ende der Siedlung, das uns Julias Vater gebaut hatte, als wir noch Grundschüler waren. Wie viel Zeit hatten wir dort gemeinsam verbracht? Eine ganze Kiste voll mit Barbies und Kleidung für unsere Puppen hatten wir in das Baumhaus geschleppt. Einmal hatten wir unsere Eltern überredet, dort übernachten zu dürfen. Mitten in der Nacht flüchteten wir zu mir nach Hause, weil es uns zu gruselig wurde.
Das nächste Bild zeigte mich auf dem Fahrrad. Ich war, glaube ich, acht gewesen – und das Rad mein ganzer Stolz. Schon damals hatte Julia gerne fotografiert.
Ein Foto, aufgenommen im Grätzel, wie ich an der Einrichtung erkannte. Das Bild war weder scharf noch besonders interessant. Jede Menge Leute. Ich saß, Julia stand hinter mir und zeigte grinsend mit Zeige- und Mittelfinger ein V über meinem Kopf, während ich nichts merkte. Keine Ahnung, wer es geknipst hatte.
Danke, Julia, dachte ich. Danke, für diese schönen Erinnerungen. Ich wünschte, es wären mehr als bloß ein paar Fotos. Ob ich die wohl ausgedruckt haben konnte? Ich würde Frau Mechat danach fragen.
Es wurde Zeit zu gehen. Die Tagebücher waren nicht da. Vielleicht hatte Frau Mechat sie weggeschmissen, verbrannt oder sonst was mit ihnen angestellt. Vielleicht las sie Julias Tagebücher gerade selbst, um herauszufinden, was in ihrer Tochter in den letzten Wochen vorgegangen war. Vielleicht hatte sie die Aufzeichnungen auch der Polizei übergeben, bevor sie Julias Tod als Unfall deklariert hatten.
Ich verließ Julias Zimmer und ging in die Küche zu Frau Mechat. Sie blickte auf. »Und? Alles in Ordnung mit dir?« Julias Mutter war gerade dabei, Gemüse klein zu schneiden.
Ich nickte und deutete auf die Arbeitsplatte. »Kann ich helfen? Ich koche gern.«
Frau Mechat winkte mich zu sich heran, holte ein Schneidebrett und ein Messer aus der Schublade. »Gemüsesuppe. Ich hoffe, du bleibst dann aber auch zum Essen.«
Während ich mit dem Messer hantierte, fiel mir ein, dass ich Frau Mechat wegen der Fotos und der Tagebücher fragen wollte. »Julia hat ein paar Bilder auf dem Computer. Ob ich mir die ausdrucken kann?«
»Sicher! Ich hatte bisher noch gar nicht die Zeit, mir anzusehen, was sie alles auf der Festplatte hat – sie hat so tolle Fotos gemacht. Dafür hatte sie echt Begabung.«
Ja, Julia hatte ständig ihren Fotoapparat dabei – und seit Weihnachten filmte sie alles mit dem Camcorder, den sie von ihrem Vater bekommen hatte. Ich hatte weder das eine noch das andere Gerät in ihrem Zimmer gefunden. Offenbar war nicht nur ihr Tagebuch verschwunden.
»Ich frage mich, ob auf ihrer Kamera ebenfalls Bilder von uns drauf sind. Ich konnte sie nicht finden.«
Frau Mechat hielt mit dem Schneiden inne und blickte mich an. »Jetzt wo du es sagst –
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