Frostengel
tief und fuhr sich mit der Hand durch seine wuscheligen braunen Haare.
Wie gerne hätte ich ihm den Arm um die Schulter gelegt, ihn versucht zu trösten. Wir hätten uns gegenseitig trösten können. Um ihn von seinem Bruder abzulenken, zeigte ich auf eine schmale Tür, die vom Wohnzimmer abging. »Und was ist da drin?«
»Schlafzimmer«, gab er zur Antwort. Ich wollte mich erheben, weil ich gerne auch dort einen Blick hineingeworfen hätte, doch Leon hielt mich zurück. »Nein, das Bett ist nicht gemacht und … ja, also …«
»Dann ist es eh besser, wenn ich nicht reinschau. Ich hatte gerade so einen enorm ordentlichen Eindruck von dir«, gab ich zurück und brachte ihn endlich wieder zum Lächeln.
»Ich geh dann mal … der Kaffee.« Warum wirkte er plötzlich so unsicher? Bisher hatte ich immer den Eindruck, dass ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte. Vermutlich wühlte ihn die Erinnerung an seinen toten Bruder so sehr auf.
»Kaffee kochen kannst du wirklich. Ich bin mir sicher, jeder große Chefkoch hat mal mit schnödem Kaffee angefangen.« Ich gewann ein weiteres Lächeln von Leon.
»Okay, wenn ich nach dem Studium keinen anderen Job kriege, werde ich hauptberuflich Kaffeekoch.«
»Was willst du denn studieren?«, fragte ich, während ich auf den Kaffee blies, um ihn abzukühlen.
»Am liebsten Psychologie oder Sprachwissenschaften.«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich hätte ihn eher als Tüftler eingeschätzt. Irgendwas mit Computer oder Maschinenbau. Von mir aus Architekt oder meinetwegen Anwalt. Aber Psychologie? »Warum ausgerechnet Psychologie?«, wollte ich wissen.
Er überlegte kurz, bevor er mir antwortete. »Weil ich das Innenleben der Menschen spannend finde. Du nicht?«
»Doch. Irgendwie schon. Zum Beispiel würde es mich interessieren, warum Julia alleine heimgegangen ist.«
»Blöd, dass ich mit dem Studium nicht schon fertig bin, vielleicht hätte ich dir deine Frage beantworten können.« Er sah mich von der Seite an. »Und vielleicht wüsste ich dann auch, warum die Polizei aus heiterem Himmel zu mir kommt und mir hundert Fragen stellt. War sie auch bei dir?«
»Nein. Wann war das?« Ich drehte den Becher zwischen meinen Händen und nahm einen tiefen Schluck.
»Letzte Woche. Ein paar Tage nach Julias Tod. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, aber als ich darüber nachdachte, kam es mir komisch vor, dass ich befragt werde, nachdem ja schon feststand, dass Julia einen Unfall hatte. Glauben die etwa selbst nicht an einen Unfall?«
Ich rutschte auf dem Sofa hin und her. Mein Mund war ganz trocken, schnell schenkte ich mir eine zweite Tasse Kaffee ein. Fast hätte ich mir die Lippen verbrüht.
»Ich habe das Gefühl, die glauben, ich hätte Schuld an Julias Unfall. Vielleicht rede ich mir das auch nur ein, aber ehrlich gesagt reichen mir schon die Vorwürfe, die ich mir ohnehin mache, weil ich sie alleine im Grätzel gelassen hab an dem Abend. Du hast doch überall herumgefragt. Hast du irgendetwas Neues über Julias Tod erfahren?«
»Also … ich … nein. Nur dass sie nicht den Bus genommen hat«, stammelte ich, völlig überrumpelt von seiner Frage.
»Woher weißt du das so sicher?«
»Ich hab den Busfahrer gefragt, der an dem Abend Dienst hatte.«
»Hm, das heißt dann wohl, dass sie irgendwie anders zur Brücke gekommen sein muss.«
Ich nickte. »Sag ich doch die ganze Zeit. Wahrscheinlich hat sie jemand mitgenommen, jemand mit einem Auto und …«
Leons Gesicht erstarrte. Ganz langsam stellte er seinen Kaffeebecher auf den Couchtisch. Dann musterte er mich mit zusammengekniffenen Augen von der Seite. Seine Stimme klang gefährlich ruhig, als er sagte: »Des halb hast du mich also gefragt, ob ich am Montag mit dem Auto kommen würde. Die Frage kam mir schon in dem Moment total absurd vor. Aber jetzt kapiere ich: Du wolltest herausfinden, ob ich eins hab.«
»Ich …« Meine Stimme versagte. Ich stellte den Becher mit zitternden Händen ab und zuckte zusammen, als ein wenig von dem heißen Kaffe auf meine Finger schwappte.
Leon war jetzt aufgesprungen. So war er viel größer als ich, die immer noch auf dem Sofa saß. Langsam erhob ich mich. Doch es war nicht mal seine Größe, die mich einschüchterte.
»Dir habe ich den Besuch dieser Polizeibeamtin zu verdanken. Gib’s zu!«
Ich brachte kein Wort hervor. Aber mein Schweigen war Antwort genug.
»Hau ab! Und nimm dein Scheißbuch mit!«, schrie er mich an. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Ich
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