Frostengel
Schwimmerin, hatte keine Probleme mit dem Tauchen, machte perfekte Kopfsprünge vom Einmeterbrett, aber die drei Meter waren nicht mein Ding. Allein die Vorstellung, dort runterspringen zu müssen, hatte mir tagelang Albträume beschert. Als ich mit Julia darüber sprach, meinte sie, ich solle einfach raufgehen, die Augen zumachen und, ohne nachzudenken, springen. Doch als ich dann oben stand, konnte ich mich nicht rühren. Ich hatte solch eine Panik, als ich das Wasser unter mir sah, dass ich umdrehte und die Stufen wieder hinunterkletterte.
Bei der nächsten Schwimmstunde hielt ich mich an Julias Rat: rauf, runter, fertig. Angenehm war es trotzdem nicht gewesen, aber ich hatte es geschafft!
Jetzt war es für mich genau wie damals – ein Sprung vom Dreimeterbrett, hinein ins kalte Wasser. Hätte ich mir Zeit zum Nachdenken gelassen, wäre ich bestimmt unverrichteter Dinge wieder gegangen. Stattdessen presste ich meinen Finger auf die Klingel und hielt meinen Atem an. Vielleicht war er gar nicht zu Hause? Jetzt stell dich nicht so an, ermahnte ich mich, schließlich will ich in seine Wohnung. Ich dachte schon, ich hätte mich ganz umsonst selbst gemartert, weil es ziemlich lange dauerte, bis es in der Gegensprechanlage knackste. »Hallo?«, klang Leons Stimme verzerrt an mein Ohr.
Und wenn er dich nicht reinlässt?, schoss es mir durch den Kopf. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, sagte ich meinen Namen. Der Summer ertönte und ich drückte das Tor auf.
Leon wartete vor der Wohnungstür auf mich. Erfreut sah er nicht aus, aber immerhin lag eine gewisse Neugier in seinem Blick.
Ich hob die Hände, noch bevor er etwas sagen konnte. »Hör zu, es tut mir leid. Jedes Mal, wenn ich mit dir rede, endet es damit, dass ich dich mit irgendwas beleidige.«
»Willst du nicht erst mal reinkommen?«, fragte er und ich vergaß, was ich mir noch alles als Rechtfertigung überlegt hatte. Wieder mal hatte er es geschafft, mich zu überrumpeln. Irgendwie reagierte dieser Typ nie so, wie man es von ihm erwartete.
Er ging vor und hielt mir die Tür auf. »Ich krieg nicht oft Besuch«, sagte er, während ich meine Jacke auszog und sie auf den Kleiderständer hängte.
Ich war ein wenig aufgeregt, mir war klar, dass ich eine Art Sonderbehandlung genoss. Soweit ich wusste, war noch nie wer aus unserer Stufe bei Leon zu Hause gewesen. Dennoch hatte ich nicht vergessen, warum ich hier war: Ich suchte nach Hinweisen auf ein Auto. Beim Schuheausziehen versuchte ich möglichst unauffällig, alles aufzunehmen, was ich sah. Neben der Tür hing ein Schlüsselbord. Ich erkannte den Schlüssel zum Spind in der Schule, einen Wohnungs- und einen Briefkastenschlüssel. Aber nichts, was auf ein Auto deuten würde. Ich stellte meine Schuhe auf die Plastikmatte und richtete mich auf.
Neben der Tür stand eine Kommode mit einer Glasschale. Sie war leer.
»Jetzt steh nicht da wie angewachsen. Wenn du schon hier bist, kannst du auch genauso gut reinkommen«, sagte Leon und deutete ins Wohnzimmer, wie ich durch die offene Tür erkennen konnte.
Ich nickte. »Ach ja, bevor ich es vergesse«, sagte ich, nahm das Buch aus der Plastiktüte und hielt es ihm hin. »Ich hoffe, du kennst es noch nicht.«
Er sah mich an. Sein Blick war so intensiv, dass mir ganz heiß wurde. Es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bis er sagte: »Vielen Dank, wie komme ich zu der Ehre?« Seine Worte zerrissen das Band, das seinen Blick mit meinem festhielt. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Verflixt, was war bloß los mit mir? Etwas lief gewaltig schief und ich musste mir still vorsagen, dass ich nur aus einem Grund hergekommen war: Auto, Autoschlüssel, Beweise suchen.
Ich räusperte mich. »Äh, also. Ich hab das Buch von einem Bekannten meiner Mutter bekommen, aber ich hab schon so einen hohen Stapel«, ich zeigte mit meiner Hand in Kniehöhe, »und da dachte ich, ich kann’s dir mitbringen. Du liest doch so was gerne.« Ich fasste mich langsam. Gerade hatte ich Leon ins Gesicht gelogen und war dabei nicht einmal rot geworden. Ob ich langsam Übung bekam?
Leon grinste. »So, so. Deshalb klebt auch das Preisschild noch drauf und zufällig steckt es auch in der Originaltüte vom Buchladen ums Eck.«
Jetzt wurde ich doch rot. Leon hatte mich eiskalt erwischt. Ich würde einen miserablen Verbrecher abgeben. Dümmer, als die Polizei erlaubt. Nur gut, dass Leon keine Ahnung hatte, warum ich wirklich gekommen war. Theresa, pass bloß auf, dass du dich nicht
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