Frostengel
»Theresa, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du schon wieder da bist. Wie geht es dir?«
»Ganz gut, danke. Ich hatte Glück.« Würde ich jetzt ständig gefragt werden, wie es mir ging? Am besten sollte ich mir ein Schild um den Hals hängen, auf dem stand: MIR GEHT’S GUT!
Mit keinem Wort erwähnte er die Polizei in der Schule. Gott sei Dank!
Wir konzentrierten uns auf den Stoff. Die Leiden des jungen Werther. Vielleicht konnte man dieses Werk nur verstehen, wenn man selbst depressiv war. Ich jedenfalls konnte gar nichts damit anfangen.
In der Pause drückte mir Sandra einen Packen alter Abizeitungen in die Hand. »Hier, die Ausgaben der letzten fünf Jahre. Es sind je zwei Exemplare. Damit hast du einen Überblick, wie die anderen es gemacht haben. Vielleicht fällt dir zum Aufbau noch was Gutes ein. Aber lass dir bloß Zeit damit. Ich wollte sie dir nur geben, damit ich das später nicht vergesse.«
»Schon gut. Zeitungen durchzublättern, ist ja nicht gerade ein Kraftakt. Außerdem kann Leon mir helfen. Bloß die Fragebögen hab ich durch den Sturz im ganzen Treppenhaus verstreut.«
»Macht nichts. Ich kümmere mich drum. Dann hab ich wenigstens eine Ausrede, warum ich keine Zeit hatte, Werther zu lesen.« Sie zwinkerte mir zu und zog in ihrem typischen Eilschritt davon.
Leon trat aus der Klasse hinter mich und pustete mir in den Nacken. »Arbeit?«, fragte er, als er die Abizeitungen sah.
Ich nickte. »Was hältst du davon, wenn wir sie nachher gemeinsam durchsehen und uns ein Konzept überlegen. Außer den Lehrerinterviews und den Fragebögen für uns Schüler, die ja immer noch nicht fertig sind, haben wir nicht viel, womit wir die Zeitung füllen können.«
»Gut. Aber das machen wir bei mir, einverstanden?«
Ich musste lächeln. »Einverstanden. Aber nur, wenn du mir wieder was Gutes kochst.«
»Hm, da muss ich erst mal überlegen, was. Wie du weißt, ist mein Repertoire ziemlich begrenzt.«
Ich musste an diesem Tag immer wieder Fragen nach meinem Sturz beantworten, aber dank Leons Hilfe – er trug meinen Rucksack mit dem Packen Zeitungen – brachte ich die Stunden einigermaßen gut hinter mich. Nach der Schule liefen Leon und ich Hand in Hand den Weg zu seiner Wohnung.
»Ich habe echt Hunger, was kannst du mir heute anbieten?«, fragte ich, als wir bei ihm angekommen waren.
Er zog mich spielerisch an einer Haarsträhne. »Komm mit in die Küche und sieh selbst. Ich mach uns erst mal Kaffee, sonst kann ich dir nur …«
»Ja, ich weiß. Sonst gibt’s nur Tee oder Mineralwasser. Kaffee ist eine gute Idee. Und ich guck mal in den Kühlschrank«, sagte ich.
Ich machte die Kühlschranktür auf. Himmel, der war nahezu leer. Außer einer Packung Margarine, etwas Schinken und einer angefangenen Colaflasche war nichts drin. »Ich fürchte, wir werden uns mit ein paar Broten zufriedengeben müssen.«
Gemeinsam bestrichen wir Brotscheiben mit Margarine, belegten sie mit Schinken und ein paar sauren Gurken, die Leon noch in einem Küchenschrank fand. Aus einer Schinkenscheibe schnitt er ein Herz und reichte es mir. »Fast zu schön, um gegessen zu werden«, befand ich, biss aber trotzdem hinein.
Bis wir die Brote aufgegessen hatten, war es fast drei, weil wir immer wieder herumalberten. »Langsam sollten wir uns um die Abizeitung kümmern«, sagte ich. »Dafür bin ich schließlich hier.«
»Und ich dachte, wegen des wunderbaren Mittagessens! Gut, dass ich jetzt Bescheid weiß. Du bist halt ein Arbeitstier, da kann ich Brote mit Schinkenherzen belegen, wie ich will!«
Ich streckte ihm die Zunge raus und holte die Zeitungen aus meinem Rucksack, gab ihm die älteste Ausgabe und schlug eine weitere auf.
»Wonach suchen wir eigentlich?«, fragte er.
»Nach guten Ideen, mein Lieber. Wir gucken, wie die anderen es gemacht haben – und machen es noch besser.«
»Alles klar.«
Bevor ich zu Steinmenger aufbrechen musste, schaffte ich leider nur halb so viel, wie ich geplant hatte. Aber wenn ich nicht zu spät kommen wollte, musste ich jetzt echt los, es war schon Viertel vor vier. Ich gab Leon einen Kuss auf den Mund. »Hier, ich hab angefangen, Notizen zu machen. Du kannst sie ja weiterführen, wenn du willst. Und dann sehen wir uns morgen, ja?«
Steinmenger wohnte fast am Waldrand. Als ich das erste Mal sein Haus sah, hatte ich mir sofort vorgestellt, dass ich auch mal so eines haben wollte. Wenn ich hier leben würde, wäre ich wahrscheinlich jede freie Minute im Wald. Ich liebte den
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