Frostengel
falls du etwas brauchst, dann ruf mich einfach, ja?«
»Danke, Mama, aber es geht schon, denke ich.« Ich warf Corinna einen fragenden Blick zu – sollte etwa die gute Phase wirklich noch andauern? Corinna zuckte grinsend mit den Schultern.
In meinem Zimmer lag Julias Tagebuch auf meinem Nachttisch. Allein der Anblick bereitete mir schlechtes Gewissen. Ich sollte es wirklich zu Ende lesen, doch ich konnte nicht. Nicht mehr heute. Es würde mir nicht davonlaufen.
Bevor ich wegdämmerte, fiel mir ein, dass Karin Zauner nicht angerufen hatte. Sie wollte sich doch melden, sobald sie Klaus überprüft hatte. Egal, morgen war auch noch ein Tag.
Als ich in der Früh erwachte, fühlte ich mich richtig fit. Der Schlaf hatte mir gutgetan: Die blauen Flecken spürte ich kaum mehr und die Beule auf meinem Hinterkopf tat zwar noch weh, war aber immerhin kleiner geworden. Der Blick durch das Fenster steigerte meine gute Laune noch. Strahlend blauer Himmel und Sonnenschein. Fast schon wie Frühling. Deshalb beschloss ich, zu Fuß zur Schule zu gehen. Alles in mir lechzte nach frischer Luft und Bewegung. Corinna wollte lieber den Bus nehmen, was mir nur recht war. So konnte ich meinen Gedanken nachhängen und ungestört an Leon denken.
Als ich bei der Schule ankam, wartete er schon vor dem Gebäude auf mich. Mit einem Grinsen kam er auf mich zu, hob mich hoch und wirbelte mich herum, bevor er mich küsste. »Hast du mich vermisst?«, fragte er.
»Und wie.«
»Geht es dir besser?«
»Ja, Gott sei Dank. Ich glaube, das habe ich deiner Wundersalbe zu verdanken. Hat sich Frau Zauner bei dir gemeldet? Bei mir nämlich nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Ne, aber das tut sie bestimmt noch. Jetzt komm. Alle haben sich ziemliche Sorgen um dich gemacht.« Leon nahm meine Hand und gemeinsam schlenderten wir ins Schulgebäude. Vor der Direktion entdeckte ich Karin. Was für ein Zufall! Sie winkte mich zu sich. Die Schulglocke läutete. »Wir sehen uns dann oben«, sagte Leon und ging in Richtung Treppe, während ich mich zu Karin gesellte.
»Theresa, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du schon wieder in der Schule bist. Alles okay?«, fragte sie.
»Ja, danke. Haben Sie mit Klaus gesprochen?«
»Hab ich. Er war ziemlich bestürzt von deinem ›Unfall‹. Wahrscheinlich aber noch mehr, weil ich ihn um ein Alibi für gestern Nachmittag gebeten habe.« Sie grinste.
»Und hat er eins?«
»Er sagt, er war von vier bis sechs in einer Redaktionssitzung. Ich muss das noch überprüfen, aber ich denke, er wäre nicht so dumm, mir eine Lüge aufzutischen, die so leicht nachzuweisen wäre.«
»Hm, das stimmt. Aber suchen Sie weiter? Ich muss jetzt zum Unterricht«, sagte ich.
»Dann viel Spaß. Ja, ich rede jetzt erst mal mit dem Direktor. Wir bleiben in Verbindung, okay?«
»Okay. Bis dann«, verabschiedete ich mich. Ich musste mich beeilen. Bis auf einige Nachzügler, die in ihre Klassen hetzten, war alles menschenleer.
Ich ging die Treppe hinauf und hielt mich am Handlauf fest. Mein Herz klopfte laut.
Hier ist niemand, Theresa, sprach ich mir Mut zu. Aber ich wusste, dass ich meinen Treppensturz nicht so schnell würde vergessen können.
Ich war schon fast oben, als mich eine Stimme zusammenzucken ließ.
»Theresa, warte!« Steinmenger hastete mir nach, nahm gleich zwei Stufen auf einmal. Unterm Arm hatte er Schulbücher und ein Modell einer menschlichen Niere. »Gut, dass ich dich treffe«, sagte er etwas außer Atem. »Letztens habe ich dir ja gesagt, dass wir über deine Prüfung reden müssen. Hättest du heute Nachmittag Zeit? Gegen vier? Dann könnten wir die Literaturliste durchgehen.«
»Ja, sicher. Wo wollen wir uns treffen? In der Schule?«
»Besser bei mir. Dann kann ich dir gleich einige der Bücher mitgeben – sonst müsstest du sie dir selbst besorgen. In der Schulbibliothek gibt es nicht alle, die du brauchst.«
»Okay. Dann bis um vier.«
Ich ging die letzten Stufen rauf und wandte mich dann nach links.
Frau Steif nickte mir zu, als ich zur Tür hereinkam. »Schön, dass du da bist, Theresa. Wir wollten gerade eine kleine Meditation machen.«
Die Steif und ihre Meditationsübungen! Ich war mir sicher, zwei Drittel der Leute taten nur so, als würden sie mitmachen. Ich setzte mich neben Leon, der mir einen Platz frei gehalten hatte. Die Steif nahm es mit der Sitzordnung nicht so genau.
»Wo warst du denn so lange?«, flüsterte er.
Ich antwortete genauso leise: »Zuerst hab ich mit Frau Zauner gesprochen
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