Frostfeuer
dummer Mann, und er weiß, was in dir steckt. Dass du mehr Verstand hast als all seine geschniegelten Engel zusammen. Und deshalb mag er dich nicht.«
Natürlich hatte sie gewusst, dass der Concierge sie nicht leiden konnte. Aber es noch einmal aus Kukuschkas Mund zu hören, machte den Umstand nicht gerade angenehmer.
»Du hast von mir das Schreiben gelernt und das Lesen«, fuhr Kukuschka fort. »Nicht wie die anderen in einer richtigen Schule, mit ein paar Stunden Unterricht am Tag und Hausaufgaben und der Androhung von Prügeln, wenn sie nichts lernen. Du hast das alles in viel kürzerer Zeit geschafft – und aus freien Stücken. Als ich noch Lehrer war, hab ich keinen Schüler gekannt, der die Dinge schneller begriffen hat als du.«
»Du bist ein schlechter Schwindler, Kuku.«
Er lächelte. »Der gute Wille zählt.« Und ernster fügte er hinzu: »Außerdem ist es die Wahrheit.«
»Danke«, sagte sie. »Mir egal, ob du schwindelst.«
»Tu ich nicht.«
Sie umarmte ihn. »Egal.«
*
Der Rundenmann hatte Recht. Es gab tatsächlich ein Versteck.
Eines ihrer ersten Beutestücke, der Grundstein ihrer Laufbahn als Diebin, war der Schlüssel zum Weinkeller gewesen. Damals hatte sie bemerkt, wie leicht es war, andere zu bestehlen.
Nachdem sie und Kukuschka sich getrennt hatten, ging sie dorthin, eilig, aber nicht überhastet, mit vielen Blicken über ihre Schulter. Niemand folgte ihr.
Sie schloss die Tür des Weinkellers auf, huschte hindurch und sperrte hastig wieder hinter sich ab. Erst dann drehte sie den Schalter der elektrischen Lampen. Ihr Schein war so gelb wie schlechte Zähne und flackerte unablässig.
Der Weinkeller bestand aus drei hintereinander liegenden Gewölben, jedes davon gut fünfzehn Meter lang. Es gab drei Dutzend grob gemauerte Säulen, die die niedrige Decke hielten und ein enges Streifenmuster aus Schatten und Flackerlicht über den Boden legten. Das Aurora brüstete sich, eine der wertvollsten Weinsammlungen des Zarenreichs zu besitzen. Maus hatte Zweifel an dieser Behauptung, denn wäre sie sonst so leicht an den Schlüssel herangekommen? Nicht mal das Türschloss war ausgetauscht worden.
Sie mochte keinen Wein, aber sie liebte die Atmosphäre dieser Gewölbe. Die Decke lastete so niedrig und schwer auf den Kammern, dass sie jeden Gedanken an die Außenwelt erdrückte. Es duftete intensiv nach dem Holz der Fässer im hinteren Keller und nach den Korken der Flaschen, die weiter vorn in ihren Regalen ruhten. Auch die Weine selbst strömten ganz eigene Düfte aus, mal süßlich, mal herb und auf eine Weise berauschend, die nichts mit der Wirkung von Alkohol zu tun hatte. Für Maus war es, als zöge sie sich eine bunt gewebte Decke über den Kopf, unter der in ihrer Fantasie die wunderbarsten Dinge geschehen konnten.
Andere hätten sich hier unten wohl gefürchtet. Es gab genug dunkle Ecken ohne Lichtschein für ein ganzes Geisterschloss. Ratten lebten hinter den Regalen und Fässern, aber sie waren klug genug, sich zu verstecken, wenn der Küchenchef herabkam; nicht einmal Spuren hinterließen sie. Nur Maus entdeckte dann und wann eines der Tiere, weil Kellerkinder keine Scheu voreinander kannten.
Hinter dem letzten Fass des hinteren Kellers gab es einen Spalt in der Mauer. Niemand außer Maus wusste von ihm. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie ihn entdeckt hatte – ihr war, als hätte sie schon immer von seiner Existenz gewusst.
Vielleicht, weil sie hier unten geboren war.
In diesem Weinkeller, in diesen schattigen Gewölben, hatte Maus das Licht der Welt erblickt: die trübe Funzel einer knisternden Kellerlampe.
Das letzte Fass war leer, und das war nie anders gewesen. Maus vermutete, dass es undicht war und niemand es für wichtig hielt, ein neues herbeizuschaffen. Mit ein wenig Mühe ließ es sich einen Schritt weit zur Seite rollen, bis es gegen die Wölbung des benachbarten Weinfasses pochte. Dadurch wurde der Zugang zu dem geheimen Mauerspalt frei – und zu dem noch geheimeren Ort, der dahinter lag.
Maus zwängte sich rückwärts in den Spalt und ließ das Fass zurück in seine Ausgangsposition rollen. Aufgrund der Enge war das ein wenig umständlich und mühsam, aber sie war längst an diese Prozedur gewöhnt. Zuletzt entzündete sie eine gläserne Petroleumlampe, die am Boden bereitstand.
Einst musste es an dieser Stelle einen breiteren Durchgang gegeben haben, denn das Gestein rund um den Spalt war mit hellerem Mörtel verfugt als die übrigen Wände
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