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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gesicht.
    »Bitte verzeihen Sie«, sagte sie mit belegter Stimme. »Entschuldigen Sie die Störung.«
    Der Spalt wurde breiter. Vor ihr stand ein Junge mit braunem, struppigem Haar und Kleidung, die eigentlich zu verschlissen aussah für jemanden, der sich diese Räume leisten konnte. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen Straßenjungen halten können.
    Er sah sie nur an und nickte einmal kurz.
    Das verwirrte sie, und einen Moment lang wusste sie nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Dann aber besann sie sich und sagte: »Ich … ich gehöre zum Hotelpersonal. Ich sammle Schuhe ein, um sie zu putzen.«
    Wieder nickte er.
    »Mir ist leider ein Missgeschick passiert. Gestern Abend.«
    Es sind seine Augen, dachte sie. Irgendwas ist anders daran. Sie waren so haselnussbraun wie sein Haar, doch es war nicht die Farbe, die sie irritierte: In den Augen des Jungen gab es so gut wie kein Weiß. Die Iris reichte von einem Augenwinkel zum anderen. Und seine Pupillen waren riesig. Schöne Augen, dachte sie. Seltsame Augen.
    Er war ein wilder, strubbeliger Kerl, drahtig und mit einem sehnigen Hals. Er bewegte sich ein wenig ungelenk, so als wüsste er nicht recht, was er mit seinen Armen und Beinen anstellen sollte. Tatsächlich war er nur unmerklich größer als sie. Schwer, sein Alter zu schätzen.
    »Wer ist da?« Es war die Stimme einer Frau, die aus den Tiefen der Suite an die Tür drang. Eine angenehme Stimme. Das Gesicht, das man sich dazu vorstellte, war jung und freundlich.
    Der Junge sah über die Schulter, dann wieder auf Maus und sagte nichts. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus.
    Er kann nicht sprechen, durchzuckte es Maus. Er ist stumm!
    »Verzeihen Sie die Störung, Madame«, rief sie eilig, als ihr klar wurde, dass der Junge nicht wusste, was er jetzt tun sollte.
    Sie hatte die Bewohnerin der Suite Madame genannt, weil der russische Adel die französische Sprache und Lebensart verehrte. Sie hoffte, dass der Frau das gefallen würde.
    Im Hintergrund raschelte es. Irgendwo schien ein weiteres Fenster geöffnet zu werden: Ein eiskalter Luftstoß wehte Maus über die Schultern des Jungen entgegen. Sie fröstelte so sehr, dass sie um ein Haar einen Schritt zurückgewichen wäre.
    »Verzeihen Sie«, sagte sie noch einmal. Der Junge blickte nun merklich hektischer zwischen ihr und jemandem hin und her, der von hinten herankam. Maus hörte keine Schritte. Dennoch begann sie erneut, ihren Spruch aufzusagen. Sie war gerade bei »Missgeschick passiert« angekommen, als die Frau hinter dem Jungen in ihr Blickfeld trat, ihn sanft beiseite schob und die Tür zu voller Weite öffnete.
    Maus hatte noch nie in ihrem Leben jemanden gesehen, der so aussah wie sie. Niemanden, der so schön war und so anders. Die Frau war ungemein groß, und das lag nicht allein an den Schuhen mit hohen Kristallabsätzen, die sie trug. (Maus hatte nicht auf die Schuhe des Jungen geachtet, aber ihm gehörte sicher das kaputte Paar, in dem sie die Brosche versteckt hatte.) Das Kleid der Frau war auf den ersten Blick schlicht, sehr eng und weiß, aber ohne aufwändige Verzierungen, wie andere reiche Damen sie liebten. Sie trug keinen sichtbaren Schmuck, und warum auch? Neben ihrem Gesicht wäre jeder Edelstein verblasst. Sie hatte weißblondes Haar, das sie hochgesteckt hatte; nur ein paar lange Strähnen fielen glatt über ihre Schultern. Ihre Haut war so hell, als wäre sie ihr Leben lang nie in die Sonne getreten.
    Eiskalte Blicke tasteten über Maus’ Gesicht. »Was willst du?« Sie klang nicht unhöflich, trotz der barschen Worte. Mit dieser Stimme hätte sie fluchen können, ohne zu beleidigen.
    Maus brachte stammelnd die Geschichte vor, die sie sich zurechtgelegt hatte. Vor ein paar Minuten war sie ihr noch glaubwürdig erschienen, gerade weil sie so blödsinnig klang – wer würde schon solch eine Lüge erfinden? Jetzt aber, laut ausgesprochen, kam sie ihr wie der größte Unfug vor, den sie sich je hatte einfallen lassen. Es lief darauf hinaus, dass sie behauptete, einem Gast sei eine Brosche in dessen Schuh gefallen. Sie selbst habe das Schmuckstück beim Putzen der Schuhe entdeckt und beiseite gelegt. Dabei müsse es jedoch versehentlich in einen anderen Schuh gerutscht sein, und sie habe die Hoffnung, dass er zu einem Paar aus dieser Suite gehöre. Sie tat ganz verzweifelt und behauptete, man werde sie entlassen, wenn die Brosche nicht alsbald wieder auftauchte und der rechtmäßigen Besitzerin

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