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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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den Keller geschafft, und weil der Tunnel so trocken war, zeigte sich an ihnen keine Spur von Moder oder Schimmel. Sie kuschelte sich hinein, stellte die Petroleumlampe auf dem Boden ab und nahm eines der Bücher zur Hand. Erwartungsvoll schlug sie es an der Stelle auf, an der sie tagszuvor mit dem Lesen aufgehört hatte. Es war ein altes Buch, das Papier gelb und an den Kanten brüchig. Kukuschka hatte Maus das Lesen und Schreiben gelehrt – niemand sonst hatte es je für nötig gehalten, ihr etwas beizubringen, das übers Schuheputzen und Kachelnpolieren hinausging. Aber sie war nicht besonders schnell und musste manche Wörter zweimal lesen, ehe sie ihren Sinn vollständig erfasste.
    Sie war drauf und dran herauszufinden, wie die Geschichte vom Zarewitsch Gwidon und seiner Liebe zur schönen Schwanenprinzessin zu Ende ging, als ihr die Brosche wieder einfiel. Die goldene Brosche in einem Paar fremder Schuhe.
    Irgendwann in der letzten Nacht hatte sie sich aufgerappelt und die übrigen Schuhe eingesammelt, ganz wackelig in den Knien und von schrecklichem Schwindel geplagt. Doch die beiden Schuhe vor der Zarensuite waren fort gewesen. Und mit ihnen die gestohlene Brosche. Maus war unbehaglich bei dem Gedanken zu Mute, dass jemand, der dort wohnte, sie unweigerlich finden musste. Und warum überhaupt hatten die Besitzer die Schuhe wieder hereingeholt, bevor sie geputzt worden waren?
    Sie wischte sich eine Träne von der Wange – lästig, dachte sie; wie dumm und kindisch, wegen einer Geschichte zu weinen –, legte das Buch so vorsichtig wie einen Porzellanvogel beiseite und sprang auf.
    Bald darauf eilte sie durch den Weinkeller, löschte das Licht, verschloss die Tür hinter sich und rannte, so schnell sie konnte, Richtung Schuhkammer. Die nackten Glühbirnen an den Ecken der Korridore waren spärlich gesät, und selbst das war ein Luxus, den sich nur die allerwenigsten Gebäude Sankt Petersburgs leisten konnten; elektrisches Licht war noch immer so kostbar wie die Schmuckstücke jener, die in seinem Schein flanierten. Andere Bedienstete, die hier herabstiegen, trugen meist Lampen bei sich, um die Schatten und ihre eigene Furcht zu vertreiben. Aber Maus kannte jeden Trittbreit dieser Gänge, selbst in völliger Dunkelheit hätte sie ihren Weg gefunden.
    In der Kammer streifte sie das klamme Leinenzeug ab und schlüpfte in ihre Uniform. Mit zwei schnellen Handbewegungen sortierte sie die goldenen Fransen auf ihren Schultern, zog die Jacke straff und schlug spielerisch die Hacken gegeneinander.
    Bereit zum Aufbruch.
    Bereit, die dumme Brosche zurückzuerobern.
Das Kapitel, in dem Maus der Schneekönigin begegnet. Und dem Jungen ohne Stimme
    Maus schob ihren Schuhkarren zum Aufzug und läutete nach der Kabine. Beherzt blickte sie den Jungen an, der das Gitter für sie aufschob. Dabei bemerkte sie, dass man Menschen in die Augen und trotzdem durch sie hindurchsehen kann. Das machte ihr ein wenig Mut, und sie hatte das Gefühl, dass der Junge überrascht war; sie hatte ihn gleich erkannt, er war einer von denen, die letzte Nacht in vorderster Reihe gestanden hatten. Wie albern er in seinem gestreiften, viel zu großen Schlafanzug ausgesehen hatte! Am liebsten hätte sie ihm das ins Gesicht gesagt, aber so mutig war sie dann doch nicht.
    Im Gegensatz zu sonst begann sie ihre Arbeit heute in der oberen Etage. Mit wild pochendem Herzen schob sie den Karren durch dieselben Gänge, durch die sie am Tag zuvor der Rundenmann gejagt hatte. Es kam ihr vor, als hätte die Kälte, die sie am Vortag schon bemerkt hatte, bereits das ganze Stockwerk erfasst. Die übrigen Suiten in der fünften Etage waren derzeit unbewohnt, wohl deshalb hatte sich noch niemand beschwert. Maus nahm sich vor, dem Hausmeister Bescheid zu geben.
    Zögernd bugsierte sie das fahrbare Regal an die Wand des Flurs, schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und pochte mit einem Fingerknöchel gegen die Tür der Zarensuite. Das war zu zaghaft, aber sie wartete trotzdem eine ganze Weile, ehe sie es erneut versuchte, diesmal mit der ganzen Hand und ein wenig fester.
    Im Inneren klapperte eine Zwischentür, Füße raschelten auf Teppich. Die Kälte kroch als Gänsehaut an Maus’ Beinen empor.
    Sie hob den Kopf, weil sie damit rechnete, dass jemand von oben auf sie herabblicken würde, wenn die Tür der Suite geöffnet wurde. Stattdessen war der schmale Spalt gerade breit genug für ein einzelnes Auge, und es befand sich fast auf derselben Höhe wie ihr eigenes

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