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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stehen und hob trotzig das Kinn.
    »Er sagt, ich habe geklaut.«
    »Und?«, fragte Kukuschka, ohne den Blick vom Gesicht seines Widersachers zu nehmen. »Hast du?«
    »Nein.« Das Wort brannte in ihrer Kehle wie Gift. Es war eine Sache, den Rundenmann anzulügen. Und eine ganz andere bei Kukuschka.
    »Also?«, fragte er. »Was wollen Sie dann von dem Mädchen?«
    »Das hier ist nicht Ihre Sache«, knurrte der Rundenmann.
    »Das scheint mir sehr wohl der Fall zu sein«, entgegnete Kukuschka auf seine übliche vornehme Weise. Er sprach oft so gewählt, beinahe wie die Schauspieler, die während ihrer Engagements im Alexandertheater am Newski Prospekt hier im Aurora übernachteten. Er besaß mehr Bildung als die Hälfte des Hotelpersonals zusammengenommen und genug Anstand für sie alle. Früher war er einmal Lehrer gewesen, bevor er seinen Posten verloren hatte und gezwungen gewesen war, im Hotel als Eintänzer für einsame Damen anzuheuern. Die Frauen mochten ihn, weil er gut aussah und seine Erscheinung so gepflegt war wie die Worte, mit denen er sie beim Walzer unterhielt.
    Er und der Rundenmann belauerten einander über Maus’ Kopf hinweg. Feinsinn gegen rohe Gewalt.
    Gleich werden sie mich an den Armen packen und jeder in seine Richtung ziehen, schoss es ihr durch den Kopf. Mit einem Mal war ihr, als ginge es nicht mehr nur um sie, sondern um einen anderen, sehr viel älteren Streit.
    Der Rundenmann ballte unmerklich eine Faust. »Sie haben hier nichts zu sagen. Sie tanzen nur.« Er sagte es so abfällig, als wäre Kukuschka der Dieb, nicht sie. Das versetzte ihr einen weiteren Stich.
    »Ich vermute, Sie haben Beweise für ihre Schuld, oder?«
    Kukuschka deutete ungerührt auf Maus. »Wenn dem so ist, sollten wir alle drei jetzt zur Direktion gehen, und Sie können dort Ihr Anliegen vortragen.«
    »Er hat gar nichts!«, rief Maus schnippisch. »Er kann mich nur nicht leiden.« Weil eben niemand sie leiden konnte, außer Kukuschka.
    Der Rundenmann öffnete die Faust wieder, wenn auch gewiss nicht, weil die Worte des Tänzers ihn beeindruckten. Er wusste, er hatte alle Zeit der Welt. Maus würde ihm nicht davonlaufen. Wohin auch?
    Mit einem Ruck wandte er sich ab und ging. Ohne ein weiteres Wort. Sogar ohne drohenden Blick. Fehlte nur noch das Surren eines Aufziehmechanismus, dachte Maus. Angekurbelt, angeschoben, losgelaufen. Sie würde sich in den kommenden Nächten höllisch vor ihm in Acht nehmen müssen.
    Dann war er fort, verschwunden hinter der nächsten Biegung. Schritte polterten, dann klapperte die Tür zu den Bädern.
    »Ein grobschlächtiger Widerling!«, ereiferte sich Kukuschka.
    »Er ist gefährlich«, sagte Maus.
    »Weil er dumm und ungehobelt ist.«
    »Weil er es auf mich abgesehen hat.«
    Kukuschka lächelte und strich ihr über das kurze Stoppelhaar. Er war der Einzige, der das durfte. Nicht, dass es irgendwer sonst je versucht hätte.
    »Ich habe deine Botschaft erhalten«, sagte er förmlich.
    »Kuku«, sagte sie mit einem Seufzen, »das war keine Botschaft, sondern ein Zettel mit ein paar hingeschmierten Wörtern.«
    »Der Inhalt zählt, nicht das Äußere.« Einer seiner Lieblingssätze, und weil er das wusste, mussten sie beide grinsen.
    »Erzähl mir, was passiert ist«, bat er sie. »Was haben diese Kerle dir diesmal angetan?«
    Sie berichtete ihm alles, während sie neben ihm Richtung Eingangshalle ging. Kukuschka würde bald seinen Dienst antreten müssen.
    Maus fiel es leicht, ihm von Maxim und den anderen zu erzählen, weil sie neben Schreiben und Lesen auch noch etwas anderes von ihm gelernt hatte: dass es einem half, wenn man mit jemandem über seine Sorgen sprach. Kukuschka war ein guter Zuhörer. Auch er wusste nicht immer, was zu tun war, und vermutlich hätte es ihn überfordert, wenn sie ihm erzählt hätte, dass ihr weiterer Ärger wegen des gestürzten Dicken im Dampfbad bevorstand. Doch was Maxim und seine Kumpane anging, sagte er nur: »Sie wissen es nicht besser.«
    Maus kräuselte eine Augenbraue. »Und daran soll ich mich erinnern, wenn sie mich das nächste Mal fast erfrieren lassen?«
    »Nein. Aber wenn du ihnen auf den Gängen begegnest. Oder im Lift. Schau ihnen in die Augen. Weich ihnen nicht aus. Du bist ihnen überlegen, das musst du dir immer wieder sagen.«
    »Aber sie sind stärker«, sagte sie. »Und älter. Und der Concierge nimmt sie in Schutz, egal, was sie auch anstellen.«
    »Weil sie genauso sind wie er. Er erkennt sich in ihnen wieder. Aber er ist kein

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