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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zusammengefügt: Seele, Knochen, Muskeln, Adern, Haut, Haar, sogar der Schweiß in ihren Poren.
    Mit einem Mal kam Bewegung in Erlen. Er fiel ihr um den Hals, als hätte er jetzt erst begriffen, dass sie wieder da war, und drückte sie ganz fest. Dann ließ er sie los und blickte verwirrt von Maus auf seine Arme. Offenbar hatte er mit seinem menschlichen Körper auch ein paar Gewohnheiten übernommen, die er noch nicht recht verstand. Trotzdem lachte er jetzt vor Erleichterung und Nervosität. Maus hätte gern gefragt, wie lange sie fort gewesen war, aber der stumme Junge konnte ihr darauf keine Antwort geben.
    Vielleicht war ich gar nicht weg, dachte sie benommen, und das alles hat nicht länger als einen Augenblick gedauert.
    Sie steckte den Zapfen in eine Tasche ihrer Uniform – unbewusst wählte sie jene über ihrem Herzen, so als führte eine fremde Macht ihre Hand dorthin –, nahm Erlen am Arm und lief zur Tür.
    Hinter ihnen stieß der Zylinder ein hohes Wimmern aus und wurde schlagartig zusammengepresst, als sei ein unsichtbares Gewicht auf ihn herabgestürzt. Zuletzt sah es aus, als läge nur noch die Krempe wie ein zerknautschter Ring aus Filz auf dem Tisch. Ein leises Brabbeln ertönte aus ihrer Mitte, wurde leiser, immer leiser; dann war es fort.
Das Kapitel über die wahre Größe der Schneekönigin
    Sie fanden die Königin im Schlafzimmer ihrer Suite. Nie hatte sie schwächer ausgesehen. Mit angezogenen Knien kauerte sie hinter dem Bett, eingezwängt zwischen Wand und Nachtkommode. Ihr Kleid war zerrissen, die eisweiße Haut zerkratzt. Ihr abstehendes Haar, noch immer steif gefroren, war an vielen Enden nach unten geknickt wie Spitzen einer Narrenkappe. Sie zitterte, als hätte sie Fieber.
    In ihren Armen, ganz fest an ihre Brust gepresst, hielt sie den tobenden Regenschirm. Seine Spitze zeigte nach unten und steckte zwischen ihren Knien. Die gezahnte Öffnung befand sich neben ihrem Gesicht. Das Maul schnappte und fauchte, kam aber nicht an sie heran. Der Griff hatte sich in eine dünne Zunge verwandelt, deren Ende umherpeitschte und nach den Augen der Königin tastete.
    »Da seid … ihr ja.« Ihre Lippen sahen aus wie gesprungenes Glas, die Worte schnarrten leise und kaum verständlich dazwischen hervor. »Viel länger hätte ich nicht …« Sie brach ab, als der Schirm einen erneuten Versuch machte, aus ihrer Umarmung zu entkommen. Sein Schlund schnappte nach ihrem Ohr, doch er war zu unbeweglich, um es zu erreichen. Der Griff züngelte über ihre Wange. Mit letzter Kraft gelang es ihr, den Schirm fest- und doch von sich fern zu halten.
    Maus sah sich mit fasziniertem Grausen im Zimmer um. Kein Möbelstück war heil geblieben, selbst das Himmelbett lag mit Schlagseite auf zwei Beinen. Alle Bilder waren von den Wänden gefallen, und die Tapete sah aus, als hätte man sie mit einer Spitzhacke bearbeitet. Die Fensterscheiben waren mit Rissen überzogen, Spinnweben aus milchweißen Bruchstellen. Draußen schneite es unverändert heftig, die Schneewehen türmten sich hüfthoch vor der Terrassentür auf.
    Plötzlich stieß Erlen ein aufgeregtes Glucksen aus. Maus folgte seinem Blick und sah, dass zwei der drei Spiegel, die sein Fell bewachten, zerbrochen waren. Die Scherben lagen meterweit entfernt zwischen zertrümmerten Blumenvasen.
    »Maus … gib mir den Zapfen«, brachte die Königin stockend hervor. »Nehmt das Fell, wenn ihr wollt.«
    Maus nickte Erlen zu. Der Junge setzte sich nach einem letzten, sichernden Blick auf seine Herrin in Bewegung. Er erreichte die beiden Spiegel, lief ein paar Mal aufgeregt davor auf und ab, dann beugte er sich über sie hinweg. Kein Zauber packte ihn und warf ihn zur Decke. Der Bann war gebrochen. Blitzschnell ergriff er das Fell und presste es an seine Brust.
    »Der Zapfen«, stöhnte die Königin.
    Maus näherte sich ihr, nicht sicher, was ihr größeren Respekt einflößte: die geschlagene, geschundene Tyrannin oder Tamsins schnappender Regenschirm. Die Kälte des Zapfens strahlte in ihre Brust aus, und mit einem Mal fand sie den Gedanken, sich von ihm trennen zu müssen, unerträglich. Ihre rechte Hand kroch wie von selbst über die Uniformtasche und zeichnete streichelnd die Form des Zapfens unter dem Stoff nach.
    »Mir!«, fauchte die Königin. »Gib ihn mir!«
    »Was geschieht dann?«, fragte Maus.
    »Er gehört mir!« Die Zungenspitze des Schirms spaltete sich und kletterte mit ihren beiden Enden wie auf Beinen am Gesicht der Königin hinauf. Angewidert

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