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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verrenkte sie den Kopf, um dem biegsamen Ding zu entgehen. Die Berührung schien ihr Schmerzen zu bereiten. »Ich rette dein Leben«, fauchte sie Maus zu, » das geschieht dann!«
    Maus schob die Hand in die Brusttasche. Ihre Fingerspitzen berührten den Herzzapfen. Er fühlte sich angenehm an, ganz glatt und so kalt, dass es ihr beinahe schon wieder heiß vorkam. Es wäre schön, ihn zu behalten und herauszufinden, wie groß seine Macht tatsächlich war.
    Nein!, rief sie sich zur Ordnung. Das war nicht das, was sie wollte. Sie hatte bereits mehr Macht, als ihr lieb war: über Erlens Leben und ihr eigenes; über das der Menschen unten im Hotel; sogar über die Zukunft des Aurora.
    Sie schloss die Augen. Konzentrierte sich auf jenen Teil von ihr, der die Siebte Pforte passiert hatte. Tu, was du willst!, schien es tief in ihr zu flüstern. Nicht, was der Zapfen verlangt! Du bist es, die das Sagen hat! Nur du allein!
    Sie zog den Herzzapfen der Königin hervor, ohne einen Blick darauf zu werfen. Er lag ganz ruhig zwischen ihren Fingern, so als lauerte er auf das, was als Nächstes geschehen würde.
    »Mir«, raunte die Königin erneut.
    Maus streckte den Arm aus und tat den letzten Schritt.
    Die Königin stöhnte auf, schleuderte den peitschenden, beißenden Schirm mit aller verbliebenen Kraft von sich und riss Maus den Zapfen aus der Hand. Der Regenschirm jagte aufheulend Richtung Tür, aber Erlen war vor ihm dort und warf sie zu. Wieder begann das zornige Ding seine Runden unter der Decke zu ziehen, doch Maus hatte nur Augen für die Schneekönigin.
    Die weiße Hand, so hager wie eine Astgabel, hielt den Herzzapfen triumphierend in die Höhe und drehte ihn einmal zwischen den knöchrigen Fingern. Dann presste sie ihn sanft gegen ihre eingefallene Brust, wo er augenblicklich mit ihrem Körper verschmolz.
    »Kein Herz, ihn zu empfangen«, flüsterte die Königin. »Aber ein Ort, ihn zu bewahren bis zu meiner Heimkehr.«
    Gleißendes Licht erstrahlte aus ihren Augen. Maus spürte eine Kälte, die nicht von dieser Welt sein konnte: Sie legte sich über ihre Lippen, verschleierte ihre Augen, machte ihre Bewegungen steif und unbeholfen. Sie taumelte zurück, stolperte über den zerknüllten Teppich und stürzte. Erlen kam zu ihr, das Rentierfell fest umklammert, wollte ihr aufhelfen, erstarrte, hielt dann aber ebenso wie sie in der Bewegung inne und konnte nichts anderes mehr tun, als seine schreckliche, strahlende Herrin anzustarren.
    Alter und Gebrechen schmolzen von den Zügen der Königin wie eine tauende Eiskruste. Darunter kamen jüngere, makellose Züge zum Vorschein. Sie erhob sich in einer gleitenden, beinahe schlängelnden Bewegung vom Boden. Ungeheuer groß kam sie Maus jetzt vor, weiß und perfekt wie die Marmorstatue einer antiken Göttin. Ihr Haar flutete über ihre Schultern bis zur Taille, so hell und glitzernd, dass Maus geblendet die Augen schloss.
    Als sie die Lider wieder hob, war die Königin vorgetreten, stand jetzt mit dem Gesicht zum Fenster und breitete die Arme aus. Der Schneesturm schien innezuhalten, die Flocken tanzten abwartend vor den Scheiben, fielen nicht mehr, wehten auf und nieder, zitterten und bebten.
    Das Glas zerplatzte und fiel klirrend nach innen. Der kreisende Regenschirm unter der Decke kam schlingernd zum Stillstand, zögerte einen Augenblick zu lange – und war plötzlich von einer Wolke aus Schneeflocken umgeben, die über ihn kamen wie ausgehungerte Piranhas. In dem weißen Gewusel war einen Moment lang nicht zu erkennen, was mit ihm geschah.
    Dann aber explodierte die Flockenwolke in alle Richtungen, und aus ihrer Mitte fiel das leblose Gestänge des Schirms zu Boden wie ein abgenagter Knochen: ein Griff mit verbogenen Speichen, die wirr in alle Richtungen abstanden. Was immer ihn beseelt, ihm Leben eingehaucht hatte – jetzt war es fort.
    Die Schneekönigin stieß ein helles Gelächter aus, melodisch und wohlklingend und zugleich von solch einer Kälte, dass alle Glas- und Spiegelscherben im Raum von Eisblumen überzogen wurden. Maus rieb sich mit stockenden Bewegungen die Augen, konnte wieder klarer sehen, spürte Erlen an ihrer Seite, fror aber dermaßen, dass sie nicht anders konnte, als sich eng zusammenzurollen.
    Erlen zögerte kurz, betrachtete einen Moment lang unschlüssig das kostbare Fell in seinen Händen – und breitete es dann über Maus wie eine Decke. Sie verschwand nahezu gänzlich darunter, fror noch immer, aber die schlimmste Kälte wurde davon

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