Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
abgehalten.
    Die Königin hatte sich umgedreht, um die Vernichtung des Schirms zu beobachten. Nun vollführte sie eine herrische Geste, und sofort formierte sich das Schneetreiben in ihrem Rücken zu einer Schleppe aus Eis und bitterkalten Winden. Ohne Maus und Erlen Beachtung zu schenken, schritt sie majestätisch zur Tür. Frost und Winter begleiteten sie hinaus, als sie wortlos das Zimmer verließ.
    Zitternd und zähneklappernd hob Maus den Kopf. Das Fell wärmte sie, aber zugleich nahm auch die Temperatur im Raum wieder zu, ungeachtet der geborstenen Fensterscheiben. Draußen hatte es schlagartig aufgehört zu schneien. Während Maus noch hinsah, riss die Wolkendecke auf. Ein einzelner Sonnenstrahl bohrte sich durch das gleichförmige Grau und brannte eine leuchtende Insel ins Dächermeer der verschneiten Stadt.
    »Es wird wärmer!«, entfuhr es Maus. »Sie hat die Kälte des Anbeginns wieder in ihrem Inneren eingesperrt!«
    Erlen nickte langsam, aber er schien ihre Euphorie nicht zu teilen. Sein besorgter Blick wanderte von Maus zur offenen Tür. In einiger Entfernung heulten Eisstürme durch die Korridore des Hotels.
    Sie kroch unter dem Fell hervor und gab es ihm zurück.
    »Danke«, sagte sie leise und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie wusste nicht, ob er diese Geste verstand, aber als er rot anlief und ganz zappelig wurde, dachte sie, doch, dazu ist er Mensch genug. Natürlich ist er das.
    Sie sprang auf und reichte ihm ihre Hand. »Komm! Wir müssen hier so schnell wie möglich raus.« Sie wusste nicht, wie rasch Tamsin erkennen würde, was mit dem Schirm geschehen war. Höchstwahrscheinlich ahnte sie bereits, dass etwas schief gelaufen war. Würde sie die Bombe dennoch zünden, auch ohne Gewissheit über den Zustand ihrer Feindin? Die Vorstellung, dass die Lunte bereits brannte – jetzt, in dieser Sekunde! –, drohte Maus zu lähmen. Sie musste sich zwingen, nicht daran zu denken.
    Mit Erlen im Schlepptau stolperte sie durch den Vorraum. Alle Möbel waren mit glitzernden Eiskristallen überzogen. Vom Kronleuchter hingen Zapfen, die sich auf den ersten Blick kaum von seinen gläsernen Kristallkaskaden unterschieden.
    Maus lief aus der Suite hinaus auf den Korridor. Frost und Kälte hatten eine Spur aus Schnee hinterlassen. Die Königin musste ungeheuer schnell sein, wehte durch die Flure, als sei sie selbst zu einer Wolke aus Schneetreiben geworden. Aber in welcher Gestalt auch immer sie durch das Hotel eilte: Längst war sie am Ende des Gangs verschwunden.
    Etwas stupste von hinten gegen Maus’ Nacken.
    Sie wirbelte herum und blickte in Erlens Gesicht – das jetzt nicht mehr Erlens Gesicht war.
    Sie hatte nicht bemerkt, wie er das Fell übergestreift hatte. Was dann mit ihm geschehen war, musste so schnell gegangen sein, dass sie es nicht einmal aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Jetzt konnte sie nur noch dastehen und ihn anstarren, fassungslos, ungläubig und doch in dem Wissen, dass es so hatte kommen müssen.
    Schnuppernd streckte er ihr seine lange Schnauze entgegen. Die riesigen braunen Augen, die niemals so recht in das Antlitz eines Jungen gehört hatten, blickten sie aus einem befellten Rentierschädel an: ganz sanft, aber von etwas erfüllt, das Zuneigung und Dankbarkeit und das Wissen um etwas Tieferes zu sein schien, dessen kein anderes Tier je gewahr werden würde. Zwei Stümpfe auf der flachen Stirn verrieten, dass jemand sein Geweih abgesägt hatte. Die Stellen waren verwachsen und knorpelig, die Verstümmelung musste Jahre zurückliegen. Dahinter befand sich der Rest des Rentierleibes, ein schlanker Körper auf vier langen, muskulösen Beinen.
    Wieder stieß die feuchte schwarze Nase gegen Maus’ Wange. Das Rentier zwängte sich an ihr vorbei und rieb seine Flanke an ihrer Schulter.
    »Ich soll auf dir reiten?«, fragte sie tonlos.
    Das Rentier scharrte mit einem Vorderfuß auf dem Teppich und senkte das Haupt. Als Maus nicht gleich reagierte, wurde das Scharren hastiger, ungeduldiger.
    Sie schluckte heftig, legte die Hände auf das drahtige Fell, zögerte erneut, packte dann fester zu und zog sich hinauf. Oben kam sie unsicher zum Sitzen, beugte sich vor und legte beide Arme um den schlanken Hals. Sie konnte die Muskeln unter dem Fell spüren, das aufgeregte Vibrieren des kraftvollen Leibes.
    Das Rentier warf den Kopf in den Nacken, als wollte es einen Ruf ausstoßen, für den seine Kehle nicht geschaffen war. Dann galoppierte es los, den Korridor hinab, so geschwind wie

Weitere Kostenlose Bücher