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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der Frostwind, dessen eisiger Fährte es folgte.
Das Kapitel über die Wahrheit. Und eine Lawine im Treppenhaus
    Weiße und violette Schwaden aus Licht waberten durch die Korridore. Frostfeuer spannte flirrende Netze zwischen den vertäfelten Wänden, strich schillernd über die polierten Mahagonimöbel, schuf glühende Schleier, die sich beim Näherkommen auflösten und anderswo wieder zusammensetzten.
    »Sind das Nordlichter?«, fragte Maus, tief über den Hals des Rentiers gebeugt.
    Sie bekam keine Antwort. Mit der Rückkehr in seinen alten Körper hatte Erlen offenbar mehr aufgegeben als nur seine menschliche Gestalt. Aber er wirkte glücklich, ungeachtet der Gefahr, in der sie schwebten: Schnell wie der Wind, fast ausgelassen, galoppierte er die langen Flure hinunter, während Maus alle Mühe hatte, sich auf seinem Rücken zu halten.
    Immer wenn sie die Ecke eines Korridors erreichten, war die Königin bereits hinter der nächsten verschwunden. Alles, was sie zu sehen bekamen, waren Schlieren aus Schneetreiben und Eiskristallen, die der Tyrannin wie ein langer Umhang nachwehten. Und natürlich die Nordlichter. Maus fand sie überwältigend schön, genau wie die Königin selbst; doch im Gegensatz zu ihr schien von der Schönheit des Frostfeuers keine Gefahr auszugehen. Es erinnerte Maus an Spinnweben im Morgentau, zarte, wundervolle Strukturen, deren Pracht verschleierte, dass sie aus Mordlust und Gier geboren waren.
    Zuletzt bogen sie in den Korridor, an dessen fernem Ende sich die Gittertür des Lifts befand. Ein gutes Stück weiter vorn, rechts in der Wand, wölbte sich der Bogendurchgang zum Haupttreppenhaus.
    Schneewirbel tanzten wie lebende Wesen im Gang auf und ab. Schwaden aus Eis und klirrender Nordlandkälte trieben als Bodennebel über die Teppiche, ballten sich unter der Decke zu Wolkenbänken. Der Lärm eines Wintersturms fauchte ihnen entgegen; er übertönte sogar das Getöse des Zarentrosses, der sich unten auf dem Newski Prospekt dem Hotel näherte.
    Inmitten dieses Chaos aus Frost und Nordlichtglanz war die Schneekönigin stehen geblieben, genau auf Höhe des Torbogens zum Treppenhaus. Vom Ende des Gangs und dem geschlossenen Liftgitter trennten sie noch knapp zehn Meter.
    Das Rentier verlangsamte seinen Galopp, kam auf dem gefrorenen Teppich ins Rutschen, blieb dann aber stehen. Maus wurde nach vorn geworfen und wäre fast hinuntergepurzelt. Zögernd und vor Kälte zitternd richtete sie sich auf Erlens Rücken auf und blickte den Gang hinab.
    Sie waren etwa fünfzig Schritt von der Königin entfernt. Die Tyrannin hatte sich der Treppe zugewandt und sagte etwas. Auf den oberen Stufen musste jemand stehen, den Maus von hier aus nicht sehen konnte. Treppenhaus und Lift waren die beiden einzigen Zugänge zur Dachetage des Aurora. Irgendwo an der Rückseite befand sich eine Feuertreppe, doch die schied als Fluchtweg aus: Das Rentier hätte die engen, steilen Gitterstufen niemals hinabsteigen können.
    »Was tun wir jetzt?«, flüsterte Maus in Erlens Ohr, aber eigentlich stellte sie die Frage sich selbst. Sie kamen an der Königin nicht vorbei. Das Eisinferno, das sie umtobte, füllte den langen Korridor zwanzig, dreißig Meter weit aus; selbst dort, wo Maus und das Rentier standen, schnitten die Ausläufer dieses höllischen Winters wie Sand in Haut und Augen.
    Jemand trat durch den Torbogen auf den Gang, halb verborgen hinter dem Schneetreiben. Der Mann hatte die Arme vor der Brust überkreuzt und rieb sich frierend die Schultern. Er stand jetzt direkt vor der Königin. Es gehörte eine Menge Mut dazu, bei ihrem Anblick nicht sofort die Flucht zu ergreifen. Trotzdem hielt er ihrer Furcht einflößenden Aura stand.
    Die Königin stieß ein gläsernes Lachen aus, dann deutete sie mit ausgestrecktem Arm den Gang hinunter – geradewegs auf Maus und das Rentier.
    Der Eiswind riss die Mauer aus Schneetreiben entzwei, und jetzt erkannte Maus das Gesicht des Mannes. Er sah zu ihr herüber, die Augen zusammengekniffen, mit gesprungenen Lippen und Eiskrusten in den Brauen.
    »Kukuschka!«, brüllte sie. »Lauf weg!«
    Aber er hörte nicht auf sie. Vielleicht übertönte das jaulende Schneechaos ihre Worte. Er wollte an der Königin vorbei, Maus und dem Rentier entgegen. Schon sah es aus, als würde sie ihn ungehindert ziehen lassen. Dann aber, er war kaum an ihr vorüber, machte die Königin eine Handbewegung in Richtung seines Rückens. Eine unsichtbare Faust schien zwischen seine Schulterblätter zu

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