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Frostglut

Frostglut

Titel: Frostglut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Estep
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ich noch weiß, was normal überhaupt bedeutet.«
    Vic warf mir einen mitfühlenden Blick zu, aber er versuchte nicht noch einmal, mich zu beruhigen. Schließlich war er ein Schwert – ein Gegenstand, der für den Kampf geschaffen war. Vic wusste genauso gut wie ich, dass letztendlich irgendjemand den Kampf gegen die Schnitter antreten musste. Und im Moment war dieser Jemand ich – selbst wenn ich nur gegen die Angst, den Frust und die Wut meiner Klassenkameraden kämpfte.
    Mein Blick blieb an den Bildern meiner Mom hängen, die ich auf dem Schreibtisch aufgestellt hatte. Eines zeigte sie ungefähr in meinem Alter. Sie hatte die Arme um Metis gelegt. Das andere war ein aktuelleres Foto, das kurz vor ihrem Tod letztes Jahr geschossen worden war. Ich schnappte mir das Bild, setzte mich auf mein Bett und zog das Foto aus dem Rahmen. Dann ließ ich die Finger über die glatte, glänzende Oberfläche gleiten. Sofort füllten Bilder von meiner Mom meinen Kopf, zusammen mit meiner Liebe für sie – und ich spürte auch all die Liebe, die sie für mich empfunden hatte.
    Violette Augen sind lächelnde Augen , flüsterte die Stimme meiner Mom in meinen Gedanken. Das hatte sie immer im Scherz gesagt, da sie dieselben seltsam gefärbten Augen besessen hatte wie Grandma und ich. Ich konzentrierte mich auf ihre Stimme, wiederholte ihre Worte wieder und wieder, bis ich nur noch die Liebe und das Lachen hörte, bis ich nur noch das Leuchten in ihren Augen und ihr sanftes Lächeln sah.
    Ich sog diese Bilder und Gefühle in mich auf und füllte meinen Geist, meinen Körper und mein Herz mit ihnen, bis sie all die Wut verdrängten, die ich von den anderen Schülern empfangen hatte. Diese Bilder meiner Mom, die Liebe, die sie mir geschenkt hatte, sorgten dafür, dass ich mich ein bisschen besser fühlte und die Kraft fand, mich dem Rest des Tages zu stellen.
    Ich hielt das Bild meiner Mom fest, bis es Zeit wurde, den nächsten Kurs zu besuchen.
    Ich hielt den Kopf gesenkt und versuchte, den Rest des Tages durchzustehen, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Aber natürlich vergingen die Nachmittagsstunden noch langsamer als die Vormittagsstunden. Selbst Mythengeschichte bei Professor Metis, das sonst zu meinen Lieblingsfächern gehörte, zog sich quälend langsam dahin.
    Zumindest musste ich in diesem Kurs nicht allein sitzen. Carson ließ seinen Tisch genau dort stehen, wo er war, nämlich vor meinem. Außerdem erwiderte der Musikfreak das böse Starren der anderen, fast als wollte er mich vor den anschuldigenden Blicken schützen. Ich hätte mich am liebsten vorgelehnt und ihn umarmt, aber dann wären die anderen Schüler noch wütender auf ihn geworden, weil er für mich einstand.
    Schließlich endete auch die sechste Stunde, und ich schlurfte zurück zum Wohnheim. Normalerweise hätte ich mich jetzt vom Campus geschlichen, um Grandma Frost zu besuchen, aber das Protektorat hatte mir verboten, das Schulgelände zu verlassen. Ich bezweifelte sowieso, dass Alexei mich auch nur in die Nähe der Akademiemauern lassen würde, nachdem er seinen Wachdienst ja so unglaublich ernst nahm. Außerdem hatte das Protektorat wahrscheinlich irgendwelchen magischen Hokuspokus mit den Sphinxen am Tor angestellt, um absolut sicherzugehen, dass ich genau dort blieb, wo sie mich haben wollten.
    Und Grandma Frost hätte nur einen Blick auf mich werfen müssen und sofort nachgefragt, was los war. Ich hatte aber keine Lust, darüber zu reden. Ich wollte einfach vergessen, dass es den heutigen Tag je gegeben hatte. Aber das würde ich nie schaffen.
    Ich blieb eine Weile in meinem Zimmer und las Comics, aber die leuchtend bunten Seiten munterten mich nicht wie gewöhnlich auf. Ich konnte mich sowieso nicht auf die Handlung konzentrieren – nicht heute –, also packte ich meine Sachen zusammen und ging zur Bibliothek der Altertümer.
    Wieder wartete Alexei im Flur auf mich. Er nahm Haltung an, kaum dass ich die Tür geöffnet hatte. Er war den ganzen Tag sehr still gewesen und hatte kaum mit mir gesprochen. Daphne hatte recht. Er war wie ein Schatten – ein sehr dunkler, gefährlicher, grüblerischer Schatten. Ich fragte mich, was Alexei wohl tun würde, sollte ich einen Fluchtversuch starten. Wahrscheinlich würde er mich jagen, fangen und ins Akademiegefängnis stopfen. Ich machte mir keine Hoffnungen, dass ich dem Bogatyr weglaufen oder ihn im Kampf besiegen konnte. Ich hatte Alexei heute Morgen in der Turnhalle gesehen, also wusste ich, wie zäh

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