Frostglut
Zum ersten Mal am heutigen Tag spielte ein Lächeln um meine Lippen.
Vielleicht hatten unheimliche Statuen ja auch ihr Gutes.
Ich betrat das Gebäude, wanderte den Flur entlang und trat durch die geöffnete Doppeltür in den Hauptraum der Bibliothek der Altertümer.
Mit ihren sieben Stockwerken war die Bibliothek das größte Gebäude auf dem Campus und auch das imposanteste – sie hatte die breitesten Balkone, die höchsten Türme, die lebensechtesten Statuen. Und innen war die Bibliothek genauso eindrucksvoll wie außen. Der Hauptraum wurde von einer riesigen Kuppel überspannt, die es den Leuten im Erdgeschoss ermöglichte, zu allen anderen Stockwerken aufzusehen. Angeblich bedeckten erstaunliche Freskos die gewölbte Decke, Bilder mythologischer Schlachten, die mit Gold, Silber und Juwelen verziert waren. Doch ich war noch nie in den obersten Stock gegangen, um mich davon zu überzeugen, und aus dem Erdgeschoss sah man nur Schatten. Vielleicht war das auch besser so, schließlich starrten mich bereits hier unten die Statuen der Götter an.
Im ersten Stock der Bibliothek gab es eine Galerie, auf der weiße Marmorstatuen aller Götter und Göttinnen aus allen Kulturen der Welt standen. Ägyptische Götter wie Ra und Anubis. Nordische Götter wie Odin und Thor. Übersinnliche Wesen der amerikanischen Ureinwohner wie Hase oder der Schelmengott Kojote. Der einzige Gott, der nicht in diesem kreisrunden Pantheon auftauchte, war Loki. An seinem Platz befand sich nur ein leerer Sockel.
Nachdem ich dem bösen Gott persönlich begegnet war, machte es mich sehr glücklich, dass es hier und auf dem Rest des Campus keine Statue von ihm gab. Loki suchte mich bereits oft genug in meinen Träumen heim, in denen sein entstelltes rotes Auge mich bösartig anstarrte. Ich musste bereits mit dem schrecklichen Wissen leben, dass ich alle enttäuscht hatte. Ich wollte definitiv nicht auch noch aufsehen und entdecken, dass Lokis verzerrtes Gesicht auf mich heruntergrinste. Das wäre nur eine weitere Erinnerung an das Grauen, das ich freigesetzt hatte, und an den Tod und die Zerstörung, die der böse Gott und seine Schnitter des Chaos planten.
Statt den Hauptflur in Richtung Ausleihtresen zu gehen, wanderte ich tiefer zwischen die Regale. Alexei folgte mir, so still wie ein Schatten. Schließlich erreichte ich eine abgelegene, vertraute Stelle, dann schaute ich nach oben. Direkt über mir stand Nikes Statue.
Die griechische Göttin des Sieges sah genauso aus wie immer. Eine togaartige Robe lag um ihren Körper, das Haar fiel ihr in weichen Locken über die schmalen Schultern, Flügel wuchsen aus ihrem Rücken, und auf ihrem Kopf lag ein Lorbeerkranz. Jedes Mal, wenn ich die Bibliothek besuchte, nahm ich mir die Zeit, herzukommen und mit der Göttin zu reden. Das erschien mir nur höflich.
»Nun, ich stecke mal wieder in Schwierigkeiten«, murmelte ich. »Aber ich bin mir sicher, du weißt schon längst darüber Bescheid. Du scheinst immer alles zu wissen. Willst du mir vielleicht einen kleinen Hinweis geben, wie ich aus dieser Sache rauskomme? Ohne hingerichtet zu werden?«
Doch natürlich antwortete Nike nicht. Wie die anderen Götter erschien auch Nike den Sterblichen nur zu ihren eigenen Bedingungen. Auch bei mir machte sie keine Ausnahme, obwohl ich ihr Champion war. In dieser Hinsicht war meine Göttin ziemlich mysteriös – und nervig.
Allerdings war Nike wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, den Schlamassel zu klären, den ich angerichtet hatte, indem ich Vivian nicht davon abgehalten hatte, Loki zu befreien. Nike hatte mir erzählt, dass ein Krieg kommen würde. Ein Krieg, auf den wir uns alle vorbereiten mussten, sogar die Götter. Aber wie sollte ich ihr auf lange Sicht dabei helfen, einen Krieg zu gewinnen, wenn ich im Moment kurz davor stand, alles zu verlieren?
»Na ja, auf jeden Fall gehe ich jetzt arbeiten. Aber wenn du später am Ausleihtresen vorbeischauen willst, ich werde da sein wie immer«, erklärte ich der Statue. »Lass dich nur nicht von Nickamedes erwischen. Er wird dir wahrscheinlich erklären, dass Togen in der Bibliothek nicht erlaubt sind, oder etwas ähnlich Dummes. Du weißt ja, wie er ist.«
Bei meinen Worten verzogen sich die Lippen der Statue zu einem Lächeln. Es war nur eine winzige Bewegung, aber sofort fühlte ich mich besser. Es war, als wüsste Nike genau, was vorging, und hätte mich nicht vergessen. Als würde sie auf mich achten. Als wäre sie sicher, dass am Ende alles gut
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