Frostglut
Limo übergossen zu werden, aber die Statue nicht. Statt die Stufen nach oben zu eilen, bevor mich die nächste Dose am Kopf treffen konnte, ging ich zu der Greifenstatue, kramte eine Packung Taschentücher aus meiner Umhängetasche und wischte die klebrige, orangefarbene Flüssigkeit von dem dunkelgrauen Stein.
»Tut mir sehr leid«, murmelte ich. »Eigentlich sind sie hinter mir her, nicht hinter dir. Wegen dem, was mit dem Dolch passiert ist. Weil das Schnittermädchen ihn eingesetzt hat, um Loki zu befreien.«
Der Greif sprach nicht mit mir, aber es wirkte fast, als würde er nachdenklich die Augen zusammenkneifen. Okay, Beschützer oder nicht, das war ziemlich unheimlich.
Ich wischte die letzten Reste Limo weg. Dann sah ich über die Schulter zu den Kerlen, die mich immer noch beobachteten. Einer von ihnen hielt eine weitere, diesmal geschlossene Dose und schüttelte sie heftig. Er grinste seine Freunde an, dann kam er mit der Dose vor dem Körper auf mich zu. Ich seufzte. Ich wusste genau, was folgen würde – Gwen kriegt Limo ins Gesicht.
Ich dachte darüber nach, ins Gebäude zu verschwinden, aber wahrscheinlich würde mir der Kerl nur folgen und die Limo abfeuern, sobald er nah genug an mir dran war. Und das würde zweifellos mitten in der Bibliothek passieren, zwischen Nickamedes’ kostbaren Büchern. Für einen Moment wog ich eine Strafpredigt des Bibliothekars gegen eine Limodusche ab, dann entschied ich mich für die Limodusche. Nickamedes und ich vertrugen uns inzwischen etwas besser, trotzdem wollte ich ihm keinen Grund liefern, sauer auf mich zu sein. Limo auf seinen Büchern würde ihn auf die Palme treiben, selbst wenn es nicht meine Schuld war. Oh, ich wusste, dass er unter den Umständen nicht allzu sauer auf mich werden konnte, aber ein zerstörtes Buch blieb ein zerstörtes Buch. Mein Tag stank schon jetzt. Es gab keinen Grund, Nickamedes auch noch seinen zu versauen.
Aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich mich kampflos ergeben musste.
Ich war klug genug, Vic nicht aus meiner Tasche zu kramen. Wenn ich das tat, würden diese Kerle ihre eigenen Waffen ziehen, und alles würde noch schlimmer werden als im Speisesaal. Also förderte ich stattdessen meine eigene Limo zutage, die ich mir zum Mittagessen geholt und noch nicht getrunken hatte. Wenn ich schon nass werden musste, dann sollte es dem Kerl, der mich angriff, genauso ergehen.
Der Kerl erreichte den Fuß der Treppe. Er grinste seinen Freunden zu, dann drehte er sich um, kam auf mich zu und …
Ein tiefes Knurren durchschnitt die Luft.
Der Kerl hielt an. Sein Kopf ruckte von rechts nach links, weil er herausfinden wollte, wo das Geräusch herkam. Schließlich zuckte er mit den Achseln, als hätte er es sich nur eingebildet, und trat auf die unterste Stufe.
Wieder ertönte ein Knurren.
Der Kerl trat plötzlich unsicher einen Schritt zurück. Das Knurren hielt immer weiter an wie ein rumpelnder Zug, der mit jeder Sekunde ein wenig näher kam und lauter wurde. Die Freunde meines Angreifers sahen sich ebenfalls verwirrt um. Ich war die Einzige, die bemerkte, dass die Greifenstatue die Augen zu Schlitzen verengt hatte und den Kerl vor mir böse anstarrte.
Lässig verschränkte ich die Arme vor der Brust und lehnte mich gegen die Statue. Der Kerl starrte mich an, und ich starrte einfach nur zurück.
»Sie ist es nicht wert«, murmelte er schließlich in Richtung seiner Freunde. »Lasst uns verschwinden. Ich friere mir den Hintern ab.«
Grummelnd drehte die Gruppe ab und verschwand über den Hof. Ich hielt meine lässige Pose, bis sie außer Sicht war, dann sackte ich mit einem Seufzen an dem Greif zusammen.
»Vielen Dank«, flüsterte ich.
Eine Seite seines Schnabels zuckte, fast als würde die Statue lächeln. Ich tätschelte dem Greif den Kopf, dann wandte ich mich ab, um in die Bibliothek zu gehen. Alexei, der sich während der ganzen Aktion im Hintergrund gehalten hatte, trat endlich vor. Er warf mir einen seltsamen Blick zu, als könnte er nicht glauben, dass ich mit einer Statue sprach, aber inzwischen war mir vollkommen egal, was der Bogatyr über mich dachte.
»Du kannst gerne hier draußen bleiben, wenn du willst, aber ich gehe jetzt in die Bibliothek, wo es warm ist«, verkündete ich und zog ab.
Ich erreichte die Türen der Bibliothek und warf einen Blick über die Schulter zurück. Alexei folgte mir. Allerdings ging er genau in der Mitte der Treppe, während er den Greifenstatuen misstrauische Blicke zuwarf.
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