Frostherz
gehen. Sie wäre binnen Minuten pitschnass. Nein, lieber wartete sie noch kurz. Sie setzte sich auf das gelbe Sofa und spielte mit den Schlüsseln. Wie müde sie mit einem Mal war! Warum konnte sie sich nicht einfach hier hinlegen und schlafen? Weil sie heimmusste, und zwar dringend. Es war schon fast halb eins. Noch immer krachte es draußen, der Regen nahm kaum ab. Ein Regenschirm, überlegte sie, irgendwo musste die Großmutter einen alten grauen Regenschirm haben. Im Ständer im Flur sah sie ihn nicht, aber sie wusste, dass die Großmutter nasse Schirme meist im Wäschekeller aufgehängt hatte.
Erst als sie den Fußboden am Ende der Treppe sah, wurde es ihr unheimlich. Was tat sie hier? Nachts, allein in diesem düsteren Haus… war sie noch bei Trost? Und überhaupt, was sollte dieser dämliche Plan? Morgen, bei Sonnenschein würde sie sich über ihre Ideen totlachen. Oder totschämen. Einen Regenschirm brauchte sie jedoch trotzdem. »Es ist nur eine Treppe in einen ganz normalen Keller«, murmelte sie vor sich hin. Der Strahl der Taschenlampe erfasste die ziegelroten Wände und jede Menge Spinnweben. Dort drüben, angelehnt, war die Tür zum Waschkeller. Nur kurz rein, Schirm holen, in einer Minute stünde sie draußen. Daheim müsste sie den Schirm gut verstecken, aber das wäre sicher kein Problem. Sie spähte in den Raum, ließ die Taschenlampe herumwandern, konnte aber nichts erkennen. Und dann wurde ihr klar, dass sie hier unten ja das Licht einschalten konnte. Das würde man auf der Straße nicht sehen. Sie kniff die Augen zusammen, als die Glühbirne aufflammte. Endlich hatte sie sich an die Helligkeit gewöhnt. Aber außer der alten Waschmaschine und dem Trockner, den Regalen voller Gerümpel und dem halb vollen Waschkorb konnte sie nirgends einen Schirm entdecken. Mist, fluchte sie und trat den Rückweg an.
Als sie im Kellergang stand, spürte sie die scharfkantigen Schlüssel wie Messer in ihrer Hand. Als wollten sie ihr einen Stachel der Erinnerung ins Fleisch treiben. Die Tür. Ihr Blick blieb an der Tür hängen, hinter der sich angeblich Rohrleitungen befanden. Mit einem Schritt war sie dort. Rüttelte an der Klinke. Verschlossen.
Langsam hob Anne den Schlüsselbund. Ihre Finger zitterten, als sie den goldfarbenen Schlüssel ins Schloss schob. Voller Anspannung drehte sie ihn nach links. Wie Butter gab das Schloss nach. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Ein Raum. Stockdunkel. Nur unter der Decke fahle Lichtreflexe. Mit der Hand tastete sie an der Innenwand nach einem Schalter, fand ihn. Sie stützte sich mit der Hand am Türrahmen ab. Schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Löschte das Licht. Schaltete es wieder ein. Was war das?
Der Raum, besser: das Zimmer hatte kein richtiges Fenster. Nur eine vielleicht drei Meter breite und zwanzig Zentimeter hohe Scheibe knapp unterhalb der Decke auf der gegenüberliegenden Seite, durch die fast kein Licht fiel, jetzt, mitten in der Nacht. Der Raum lag wohl auf der Gartenseite, das Fenster von Hecken zugewachsen. Als Erstes fiel Anne der Schreibtisch auf, umbaut von einem Aufsatz, Regalwänden, alles aus Kiefernholz und alles voll bepackt. Mit Büchern, Ordnern, Schallplatten, Kassetten, einem klobigen Ghettoblaster. Einen Walkman sah sie zwischen zwei Brettern hervorlugen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Bett mit zerknäultem dunkelblauem Bettzeug darauf, eine leere Bierflasche ragte darunter hervor. Ein fleckiger Flokatiteppich, ein grüner Schreibtischstuhl mit gelber Lehne, ein alter Kleiderschrank aus billigem Pressspan, dessen Tür offen stand. Anne betrat das Zimmer so vorsichtig, als könne sich der Boden unter ihr öffnen. Sie atmete schnell und flach. Sie wollte sich hinsetzen, aber sie fühlte sich wie in einem Museum, wo man nichts anfassen durfte. Sie stand im Zimmer eines Menschen, der vielleicht jeden Augenblick zur Tür hereinkommen konnte. Eine Sekunde wischte der Gedanke durch ihren Kopf, ob dies das Jugendzimmer ihres Vaters war, aber das war ja oben, neben dem Schlafzimmer gewesen und vor vielen Jahren schon zum Gästezimmer umfunktioniert worden, auch wenn außer Anne nie irgendjemand in diesem Haus übernachtet hatte. Wem gehörte dieser Raum? Wer hatte hier unten gewohnt? Ein Untermieter?
Anne entdeckte einen gläsernen Kopf, auf dessen Ohren ein dickes Paar Kopfhörer hing, das wahnsinnig altmodisch aussah. Unter dem Schreibtisch stand ein roter Papierkorb aus Metall mit dem Coca-Cola- Schriftzug darauf. Über dem Bett
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