Frostherz
Wand, etwas fiel zu Boden. Immer mehr folgte. Anne zwang sich, die Augen zu öffnen. Bücher hatte er aus dem Regal gerissen und auf den Boden geworfen. Eines war bis unter das Bett gerutscht. Winnetou III von Karl May. Jetzt bemerkte sie, dass sie seine Schuhsohlen sehen konnte. Er hatte sich hingekniet, die Taschenlampe neben sich gelegt. Außer seinen Schuhen und Beinen erkannte sie jedoch nichts. Sie traute sich nicht, näher an die Bettkante zu kriechen. Er schien weiter das Regal zu durchsuchen, denn immer wieder polterte es, wenn das nächste Buch zu Boden fiel. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, unter dem Bett zu suchen. Ihr Körper wurde starr, gleichzeitig spürte sie Kribbeln im linken Bein und in der Hand, als seien die Partien eingeschlafen. Ich will weg hier , dachte sie. Papa, bitte, komm und hol mich.
Doch gerade als sie glaubte, sie würde es keine weitere Sekunde in diesem stickigen Gefängnis aushalten, gingen die Füße noch einmal ganz dicht am Bett vorbei, hielten kurz an, der Lichtschein schien über die Wand über dem Bett zu wandern, dann entfernten sich die Schritte. Die Kellertreppe zum Flur hinauf knarzte, einmal, zweimal, dann war nur noch nächtliche Stille zu hören. Anne steckte vorsichtig den Kopf unter dem Bett hervor, zog die Beine nach, die gegen den Lattenrost stießen, griff mit den Armen nach dem, was sie für den Schreibtischstuhl hielt. Etwas rumpelte, polterte, durchschnitt die nächtliche Ruhe, etwas schmerzte an ihrem Kopf, durchdringend und schrill, inmitten all der Finsternis. Sie krümmte sich zusammen, erwartete weitere Schläge, ihr Herz raste und sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um zu bemerken, dass alles ruhig war. Still. Sie hielt sich den Kopf, spürte etwas Feuchtes daran, rappelte sich endlich hoch und fand den Lichtschalter. Ihre Hände waren voller Blut. Sie fingerte ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Hosentasche, hockte sich hin und presste das Tuch gegen ihre Schläfe. Langsam sah sie sich um. Neben ihr lag ein schweres, gebundenes Buch, ebenfalls von Karl May, das eine dunkel verfärbte Ecke aufwies. Wahrscheinlich hatte es auf dem Schreibtischstuhl gelegen und die scharfe Kante des Einbands war ihr genau gegen den Kopf gefallen, als sie am Stuhl gezogen hatte. Sie spürte, wie ihr Schädel pochte, und mit einem Mal war sie einfach nur noch zum Umfallen müde. Glücklicherweise hatte die Wunde zu bluten aufgehört. Anne verließ den Raum, schloss ihn sorgfältig ab, steckte den Schlüssel ein und schlich sich aus dem Haus. Der Regen hatte aufgehört.
Freitag, 04.06.
Nicht im Spiegel will ich meine Augen sehen, nicht in einer Pfütze gespiegelt. Auflösen will ich mich in weniger als nichts. Ich bin schlimmer als er. Ein Teufel, ein Engel gegen mich, Abschaum.
Sie stand so hoffnungsvoll da mit weit geöffneten Armen und der Beat passte zu den letzten, unkontrollierbaren Zuckungen meines Körpers. Also ließ ich sie an mich herankommen und es war wohl so etwas wie ein Tanz, in dem wir uns begegneten. Ihr Lächeln so hold, dieses Wort waberte durch mein Hirn und ich lächelte zurück voller Schadenfreude. Wie konnte man so unwissend sein über den Zustand der Welt wie sie? Wie konnte man einem wie mir nahekommen wollen, wo ich doch aus jeder Pore den Gestank von Unrat ausstieß? Aber sie tat es. Groß, heroisch und so lächerlich. Ich konnte nicht aufhören zu lachen, aber ihr verbarg sich der Grund. Sie zerrte mich in die Nachtluft, das Wummern der Bässe nur noch Wellengeplätscher. Mond, oh ja, da oben, weit über uns stand auch noch ein Mond, golden und prall wie ein Kuheuter. Keiner hier außer uns, Motorradgeknatter in weiter Ferne. Nicht den Blick wandte sie von meinen Augen, in ihren suchte ich Zeichen von Wahrheit. Doch ehe ich weitersuchen konnte, schloss sie die Augen, ihre Hände wie Krakenarme um meinen Hals. Ihre Lippen, ihre Zunge an meinem Mund, in ihm, es war köstlich und widerwärtig zugleich. Es war der Hauch einer Ahnung, wie es hätte sein können, und es war die Gewissheit, dass es nie so sein konnte. Und mit einem Mal war der Zorn da und ich packte ihre Hände, stark wie zehn Ochsen, und ich stieß sie von mir und sie fiel auf den Boden. Ihr Blick war so erstaunt, als fiele der Himmel auf sie. Ich ertrug ihn nicht, diesen Blick, da war nichts Himmlisches, nicht in ihr, nicht in mir und ich wollte, dass sie die Augen schloss und mich nicht mehr ansah, und ich wollte, dass sie den Mund schloss und ihre eigene Zunge aufaß.
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