Frostherz
hingen viele Plakate. Punkbands wie die »Sex Pistols«, von denen sie immerhin schon mal den Namen gehört hatte. Andere wie »The Ramones« oder »The Clash« dagegen kannte sie nicht. Das waren Typen mit wilden Mähnen oder stacheligen Haaren, zerrissenen Jeans und Lederjacken, die aber irgendwie völlig harmlos aussahen. Einer trug eine schwere Eisenkette mit einem Schloss daran um den Hals, fast alle hatten Zigaretten zwischen den Fingern. Keine Iros oder bunt gefärbte Haare, keine Piercings, nur unauffällige Tatoos.
Anne hatte den Eindruck, als wohne noch immer jemand hier. Alles wirkte so belebt. Die Unordnung, die auf dem Schreibtisch herrschte, die Klamotten, die auf dem Boden verstreut lagen – sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Großmutter ein solches Zimmer in ihrem Haus geduldet hätte. Aber noch weniger konnte sie glauben, dass das Zimmer einfach seit vielen, vielen Jahren verschlossen war. Wieso? Anne trat näher an den Schreibtisch heran. Sie zögerte, bis sie sich traute, die Bücher und Hefte auseinanderzuschieben. Ihr Blick fiel auf den Namen auf einem der blauen Schulhefte. Andreas Jänisch, 10d, stand darauf. Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken. Wer um alles in der Welt war Andreas Jänisch?
Zwanzig Minuten später war Anne kaum schlauer als vorher. Ein Hausaufgabenheft bewies, dass Andreas Jänisch 1982 in die zehnte Klasse des Cäcilien-Gymnasiums gegangen war – auf ihre Schule, auf der auch schon ihr Vater gewesen war. In dem Heft waren kaum Hausaufgaben vermerkt, dafür massig Kritzeleien von Grabsteinen mit der Inschrift »R.I.P«, »requiescat in pacem«, also »Ruhe in Frieden«. Daneben Furcht einflößende Totenköpfe oder Jesus am Kreuz mit übermäßig großen, klaffenden Wunden. Ein Foto von diesem Andreas konnte sie nirgends entdecken. Irritiert sah sie sich in dem Zimmer um. Kein Zweifel – es sah original nach den 80er-Jahren aus, als habe sich seit dieser Zeit kein Mensch mehr hier drin aufgehalten oder etwas verändert. Was war nur aus Andreas geworden? Wenn er ein Bruder ihres Vaters war, dann hätte ihr doch irgendjemand von ihm erzählt, oder nicht? War er vielleicht fortgelaufen von zu Hause und niemand hatte je wieder von ihm gehört?
Ein Knarren durchfuhr die Stille. Anne zuckte so heftig zusammen, dass ihr beinahe das Heft aus der Hand gefallen wäre. Woher kam dieses Geräusch? Noch einmal ein Knarren, nun schon näher. Sie starrte auf die offene Tür, den dunklen Kellergang dahinter. Die Zeitschaltuhr hatte das Licht schon lange erlöschen lassen. Sie knipste schnell die Zimmerlampe aus, versuchte, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Scheiße, was sie hörte, waren eindeutig Schritte! Ihr Vater? Oder ein Einbrecher? Übelkeit stieg in ihr auf, sie zitterte am ganzen Körper. Verdammt, wo sollte sie nur hin? Der Streifen einer Taschenlampe erhellte die Kellerwand. Mit einem Satz und doch so lautlos wie möglich ließ sich Anne auf den Boden fallen und rollte unter das Bett. Es war verdammt eng und verdammt staubig. Gleich würde sie in Niesanfälle ausbrechen. Sie rieb nervös über den Nasenrücken. Schließlich nahm der Niesreiz ab. Dann sah sie Schuhspitzen direkt vor sich, der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte über den Boden, über die Wände. Jemand stand vor dem Bett. Schwarze Lederslipper, darüber dunkle Hosenbeine. Die Füße machten kleine Schritte, drehten sich, das Licht wanderte mit. Der Mann sah sich im Zimmer um. Anne versuchte, gleichmäßig durch den offenen Mund zu atmen. Es klang in ihren Ohren laut wie ein Staubsauger. Und jetzt wurde die Luft noch knapper. Der Eindringling ließ sich ächzend auf das Bett fallen, der Lattenrost gab kräftig nach und Anne meinte, das ganze Gewicht des Mannes auf ihrem Brustkorb zu spüren. Mit dem Stab der Taschenlampe schlug er mehrmals gegen das Bettgestell. Es war, als zögen sich ihre Ohren in ihr Körperinneres zurück, als entferne sich der ganze Raum in Millisekunden und weite sich in der entgegengesetzten Richtung wieder aus, als sei sie selbst nur noch ein mikroskopisch kleines Teilchen im Universum. Sie hörte Knirschen, dachte für eine Sekunde, das Bett würde zusammenbrechen, und fühlte sich plötzlich riesig und massig wie ein Hefeteig, der sich ausbreitete und alles, was sich ihm in den Weg stellte verschlang. Endlich merkte sie, dass sie wieder freier atmen konnte. Der nächtliche Besucher war aufgestanden. Mit schnellen Schritten eilte er an die gegenüberliegende
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