Frostherz
wieder hinauf, sah sich kurz im Wohnzimmer um. Das Sofa war viel zu kurz und ungemütlich, um darauf zu pennen. Also stieg er dorthin hinauf, wo die Schlafzimmer waren. Er erinnerte sich an das mächtige holzgerahmte Ehebett der Großmutter. Soviel er wusste, war die alte Frau auf dem Fußboden im Wohnzimmer aufgefunden worden, er müsste also nicht im Bett einer Toten schlafen.
Auch hier war das Deckenlicht matt und verbreitete kaum Helligkeit. Er setzte sich vorsichtig auf das Bett, das heftig quietschte. Oder war das draußen, vor dem Fenster gewesen? Cornelius versuchte zu lachen. So ein Quatsch! Ami war ja wohl kaum in der Lage gewesen, ihm zu folgen. Auf dem Nachttisch lag ein Buch – die Chronik des Cäcilien-Knabenchores anlässlich seines 100-jährigen Bestehens. Hatte er das nicht auch zu Hause auf dem Wohnzimmertisch gesehen? Er schob es fort, hängte sein Jackett über den Bettpfosten und streckte sich auf der Matratze aus. Ignorierte das Ächzen. Schnell zog er die Bettdecke über sich, roch noch den scharfen Geruch nach Waschmittel, aber dann war er auch schon eingeschlafen.
Die Morgensonne schien ihm gegen halb sechs mitten ins Gesicht. Er blinzelte, versuchte, sich die Bettdecke über den Kopf zu ziehen, aber dann kratze eine Unruhe an seinem Körper, sodass er sich schließlich ergab und langsam die Augen öffnete. Einen Moment musste er überlegen, wo er war. Er setzte sich auf, versuchte, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, und schluckte erfolglos den faden Geschmack im Mund fort.
In der Helligkeit sah das Zimmer trostlos aus, schäbig und abgewohnt die Möbel, lieblos aufgehängte Bilder, ein kleiner, verstaubter Marienaltar war zwischen Fenster und Schrank aufgebaut. Seltsam starrte das Gesicht der hölzernen Marienfigur im blauen Mantel in die Höhe. Cornelius ging hinüber und besah sie sich aus der Nähe. Kein großer Künstler konnte hier am Werk gewesen sein, plump und unelegant wirkte sie, von Erhabenheit keine Spur. Die vielleicht 20 Zentimeter hohe Figur stand auf einem schlichten Holzsockel, der von verwelkten Blumen in einfachen Marmeladengläsern gesäumt war. Der letzte Rest Wasser schimmerte gelblich wie Urin. Cornelius gab der Maria einen kleinen Schubs vor die Brust. Die Figur federte ein wenig nach hinten. Jetzt erst erkannte er, dass um das Kleid herum, das bis über ihre Füße wallte, ein schmaler Schnitt im Holz zu erkennen war. Er fasste die Maria am Kopf und bewegte sie nach hinten. Unter ihren Füßen tat sich der Holzsockel auf und in ihm befand sich ein Hohlraum.
»Ui, was haben wir denn da?«, flüsterte Cornelius vor sich hin und war mit einem Mal hellwach. Erkennen konnte er in dem dunklen Loch nichts, aber gerade so passte seine Hand in das Loch hinein. Er bekam etwas Kleines aus Leder zu fassen und zog es heraus. Ein verschrammtes, in dünnem Leder gebundenes Büchlein war es, ein wenig speckig und die Kanten der Blätter gelblich schimmernd. Cornelius blätterte es auf. Eine kleine, eckige Schrift, die in Wellen über das Papier geeilt war, bedeckte eng die Seiten. Sie war schwer zu entziffern, Worte wie »Hölle« oder »Blutbahn« erkannte er, aber Buchstaben wie »u« oder »n« und »m« unterschieden sich kaum. Ob Annes Großmutter Tagebuch geführt hatte?
Er sollte Anne fragen, ob sie davon etwas wüsste. Schließlich war sie ja quasi die Erbin. Als er das Heft in den Rucksack stecken wollte, fielen zwei Fotos heraus. Eines zeigte das Porträtfoto eines zarten Jungen, zehn Jahre alt vielleicht, mit denselben hellblauen Augen wie Anne und ihr Vater. Sein Lächeln wirkte entrückt, als höbe er gleich in die Wolken ab. Das andere Foto war ein Schnappschuss, schon ziemlich grün-gelblich ausgeblichen. Kaum vorstellbar, dass dies der gleiche Junge sein sollte. Nun war er vielleicht 15 oder 16, mit schwarz gefärbtem, abstehendem Igelhaarschnitt, einem nietenbesetzten Lederband um den Hals, schwarzen Lederklamotten und Stiefeln. Seine Pupillen leuchteten vom Blitzlicht grellrot. Er riss den Mund auf, streckte die Zunge weit raus, die Hände hatte er über den Kopf erhoben und jeweils den kleinen und den Zeigefinger ausgestreckt – ein Teufelsgruß, direkt aus der Hölle.
Dienstag, 08.06.
Worte rauschen durch meinen Kopf, dabei senke ich ihn so tief, dass der Henker ein leichtes Spiel hat. Wann kommt endlich die Guillotine, das scharfe Messer, das Beil? Durchtrennt die Nervenstränge, die Muskeln, die Knochen und eine Ruhe ist, dass jeder seine
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