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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Broemme
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sich eingetrübt. Mit einem Mal sah sie sehr alt aus.
    »Du kennst ihn?«, fragte Anne, ihre Stimme klang bestürzt.
    Hedi nickte langsam. »Ich kannte ihn.«
    In den Büschen sang eine Amsel. Eine Biene summte vorbei, Blätter rauschten. Es war so friedlich. In der äußeren Welt.
    »Erzähl uns von ihm, bitte!«, sagte Anne.
    Hedi lehnte sich zurück, schlug ein Bein übers andere und besah die Spitze ihrer beigen Gesundheitssandale. »Andreas war der Bruder deines Vaters«, begann sie mit leicht zitternder Stimme. »Er war gut zwei Jahre älter als Johann. Ein zarter Junge, als er klein war ziemlich kränklich, ein echtes Mamakind. Ständig hing er deiner Großmutter am Rockzipfel. Aber ich glaube, sie liebte das. Dein Vater war viel unabhängiger. Er hat nie so einen Draht zu ihr bekommen wie Andreas. Noch mehr als Johann hatte Andreas eine wunderbare Stimme. Er sang lange im Knabenchor.«
    »Ach, hat Oma deswegen diese Cäcilienchor-Chronik geschickt bekommen?«, fragte Anne dazwischen. Hedi nickte, versank dann aber wieder in ihren Erinnerungen.
    »Es ging los, als er so 14, 15 war. Ich weiß nicht, die Pubertät hat aus ihm einfach einen anderen Menschen gemacht. Ich habe ja selbst keine Kinder, aber was deine Großmutter erzählt hat und was ich selbst gelegentlich beobachten konnte – es war schrecklich. Er zog sich mehr und mehr in sich zurück, sprach mit niemandem mehr. Lief nur noch in schwarzen Kleidern herum, mit Sicherheitsnadel drin, das war damals so Punker-Mode. Er hatte sogar eine Sicherheitsnadel im Ohr, statt eines Ohrrings. Deine Großeltern waren schockiert. Aber sie kamen einfach nicht an ihn ran. Er war kaum noch zu Hause, trieb sich rum, schwänzte die Schule, blieb sitzen. Sie versuchten es mit Drohungen, Bestrafungen, Versprechungen, ach, allem einfach. Es half nichts. Schließlich merkten sie, dass er trank, dass er Drogen nahm. Er flog von der Schule – weil er gewalttätig war und auch, weil er diesen Anstecker getragen hatte. Er durfte dann zwar zurückkehren, aber er ging einfach nicht mehr hin. Blieb tagelang weg. Deine Großmutter war krank vor Sorgen.«
    »Und Johann?«
    Hedi sah nachdenklich in das üppige Grün ringsum. »Ich weiß es nicht wirklich. Ich glaube, er war sich in der Zeit ziemlich selbst überlassen. Er hing sehr an Andreas. Nur seinetwegen wollte er auch im Chor singen. Er sang ganz schön, aber an Andreas kam er nicht heran. Und als dann diese schlimme Zeit losging – ich glaube, da hat man ihn ein wenig vergessen. Aus Sorge um den Großen. Eines Tages, 1982, an einem Frühsommertag wie heute, stand dann die Polizei vor der Tür. Sie hatten Andreas gefunden. Er war von der großen Talbrücke neben der Autobahn gesprungen. Ich hätte gedacht, deine Großmutter würde daran zerbrechen. Aber nichts dergleichen geschah. Er wurde in einem anonymen Grab beigesetzt. Ich habe sie nie weinen sehen, nicht einmal bei der Beerdigung. Allerdings habe ich sie auch nie wieder lachen sehen. Noch am Tag seines Todes ging sie in den Keller und schloss sein Zimmer ab. Es wurde nie wieder über ihn gesprochen.«
    Die Erkenntnis durchfuhr Anne wie ein Stromschlag: Erst hatte sein Vater seinen Bruder verloren und dann seine Frau – all jene, die er liebte. Tat er deshalb alles in seiner Macht stehende, um Anne zu beschützen?
    »Wie bitte?«, Cornelius wirkte schockiert. »Aber das ist doch total absurd!«
    »Ja, natürlich. Aber Annemarie war eine sehr religiöse Frau, außerdem waren sie und ihr Mann sehr auf ihr gutes Ansehen in der Stadt bedacht. Da passte kein Selbstmörder ins Bild. Der Junge starb nicht nur, er wurde auch noch totgeschwiegen. Und Johann durfte ihn auch nicht mehr erwähnen.«
    Anne spürte, wie die Tränen über ihre Wangen liefen, eine große Verzweiflung drohte ihre Brust zu sprengen. Welches Drama hatte ihr Vater durchlebt! Und nie hatte sie auch nur etwas geahnt. Nicht ein Mal hatte sie sich ernsthaft Gedanken gemacht, warum er so war. Hatte sich vielleicht gewundert, warum er so spärlich Geschichten aus seiner Kindheit erzählte, warum die Großmutter so verschlossen, kalt und unbarmherzig gewesen war – sie hatte gedacht, Menschen sind eben so. Oh Gott, ihre Großmutter – was für eine Tragödie hatte sie durchleben müssen. Hedis Hand fuhr weich über ihren nackten Unterarm.
    »Ich weiß nicht, ob es richtig war, dir das zu erzählen«, sagte sie. »Aber ich finde, du hast ein Anrecht darauf. Ich habe deiner Großmutter damals versprochen, dass

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