Frostherz
ihrer modernen Architektur, den vielen Glasflächen und geraden Linien hatte die Halle bei ihrer Eröffnung im letzten Jahr viel Kritik geerntet. Das Kino dagegen befand sich in einem wunderschönen Gebäude aus den frühen Tagen des 20. Jahrhunderts und auch der Stadtpark war eher altmodisch. Doch Anne mochte die schlichte Funktionalität des Konzertsaals.
Johann hielt direkt auf der viel befahrenen Straße davor an und unter dem Hupen seiner Hintermänner sprangen Anne und Marita schnell aus dem Auto. Sie würden ihn anrufen, wenn das Konzert fertig war, und er würde sie dann abholen.
Anne klammerte sich an der kleinen dunkelbraunen Tasche fest, in der sie Handy, Geldbeutel und ein paar Taschentücher aufbewahrte. Marita sah sich auf dem Weg hinein immer wieder um, als suche sie jemanden.
Anne folgte ihrem Blick. Nichts Besonderes zu sehen… Oder doch! Bog an der Ampel nicht ein rotes Motorrad ab?
»Ich finde The BossHoss ja richtig geil«, lenkte Marita sie ab. »Ich hab die vor Jahren mal in einem kleinen Club in Berlin gesehen und freu’ mich, dass die jetzt so groß rausgekommen sind.« Anne nickte nur ergeben.
Vor dem Eingang drängten sich bereits zahllose Fans.
»Ich stehe am liebsten ganz vorne an der Bühne«, teilte Marita nun ungefragt mit.
»Oh«, sagte Anne, ohne das Bedauern, das sie in ihre Stimmen zu legen versuchte, auch tatsächlich zu empfinden. »Das liegt mir gar nicht. Ich steh am liebsten seitlich hinten.« Nicht, dass sie schon öfter bei Popmusik-Konzerten gewesen wäre, aber selbst bei klassischen Aufführungen saß sie lieber weiter hinten. Endlich öffneten sich die Türen und sie konnten hineingehen. Marita schlug als Kompromiss die Mitte vor und Anne stimmte zu.
Sie kam sich vor wie ein Alien. Um sie herum coole, junge Frauen, die witzelten und mit irgendwelchen Typen schäkerten, jede Menge Jungs mit Sonnenbrillen und Stetsons, den BossHoss-typischen Cowboyhüten. Und an der Wand lehnte eine dürre Gestalt ganz in Schwarz gekleidet. Die Haare noch auftoupierter als sonst schon, das Weiß ihrer Augen leuchtete unnatürlich hell aus den dunkel geschminkten Lidern. Anne sah schnell fort. Ob Ami sie bemerkt hatte? Sie ging nun doch mit Marita weiter in die Mitte hinein. Unwillkürlich dachte sie an das Foto, das ihr Ami mitten in der Nacht geschickt hatte. Trotz der vielen Menschen um sie herum fröstelte sie plötzlich. War das wirklich nach dem Abend gewesen, an dem sie Cornelius geküsst hatte? Hatte sie ihn wirklich geküsst? Inzwischen kam ihr das alles vor wie ein Traum. Manchmal wie ein Albtraum.
Die ersten rockigen Töne setzten ein, aber zu ihrer Verwunderung musste Anne feststellen, dass die Stimmen der beiden bärtigen Sänger sie sofort einlullten, gefangen nahmen. Sie schaffte es, all die durcheinanderwirbelnden Gedanken und Befürchtungen beiseitezupacken und sich ganz auf die ungewohnte Musik einzulassen. Sie musste sogar schmunzeln, als sie beobachtete, wie Marita neben ihr die nackten Arme nach oben reckte, mittanzte und sang. Anne war neidisch, wie viel Lebensfreude aus den Augen der jungen Frau sprach. War sie selbst jemals so unbeschwert gewesen? Hätte so ihre Mutter sein können, wenn sie nicht krank geworden wäre?
Eineinhalb Stunden später war sie klatschnass geschwitzt. Die Menge um sie herum war immer begeisterter mitgegangen. Nach vier Zugaben gab es jetzt nicht enden wollenden Jubel und zahllose Pfiffe überall um sie herum. Marita war immer weiter nach vorne in Richtung Bühne abgedriftet, Anne konnte gerade noch ihre hochgesteckten Haare entdecken, die längst so verwuschelt waren wie morgens nach dem Aufstehen.
Als die Lichter im Saal angingen, hatte sie es nicht eilig, zur Tür zu kommen, aber der Strom der Menschen schob sie einfach mit hinaus. Einmal spürte sie einen besonders spitzen Knochen in ihrer Taille und als sie sich umsah, meinte sie einen toupierten Kopf zu sehen, der sich rasch wegduckte. Dahinten, noch ziemlich weit von ihr entfernt, konnte sie Marita sehen. Sie würde vor der Halle auf sie warten, sie mussten ja sowieso noch Johann anrufen, damit er sie abholen kam. An einer der Säulen neben den Eingangstüren lehnte ein älterer Mann ganz in Cremeweiß gekleidet mit sonnengegerbtem Gesicht. Anne musste länger hinschauen, ehe sie sich sicher war: Brunner! Oje, hoffentlich machte der keinen Ärger. Sie tat, als hätte sie ihn nicht gesehen, sie wollte keinesfalls in irgendwelche Auseinandersetzungen mit hineingezogen
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