Frostherz
musste den Schlüssel zum Haus noch immer haben. Einen Moment lang hoffte sie fast, er verstecke sich hier – wovor auch immer. Aber das Zimmer war düster, muffig und einsam wie zuvor. Sie ließ sich auf dem Bett nieder und betrachtete die Wände, die Möbel um sich herum. Sie hatte noch immer nicht genau verstanden, warum Andreas sich umgebracht hatte. Ob es damals einen Abschiedsbrief oder so etwas gegeben hatte? Aber bestimmt hätte die Großmutter diesen vernichtet. Und was – wenn sie ihn gar nicht gefunden hätte, wenn sie ihn nie gelesen hätte? Hedi hatte doch erzählt, dass sie das Zimmer noch an seinem Todestag abgeschlossen und nie wieder betreten hätte. Anne konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Großmutter das Zimmer vorher durchsucht hatte. Sie streckte sich quer auf dem Bett aus, lehnte sich mit dem Kopf an die Wand, die Füße auf dem Boden. Alles nur Spekulationen. Vielleicht hatte der Abschiedsbrief mitten auf dem Esstisch gelegen – wenn es denn überhaupt einen gegeben hatte. Vielleicht war sein Entschluss zu sterben ja so spontan gewesen, dass er gar keinen mehr geschrieben hatte. Mit einem Mal hatte sie den Eindruck, im Raum würde es dunkler werden. Sie blickte zu dem schmalen Fenster unter der Decke hinauf. Stand dort jemand? Sie erkannte dunkle Hosenbeine. Johann konnte es nicht sein, er trug eine beige Chino.
Vorsichtig kletterte sie auf den Schreibtisch, um genauer sehen zu können. Etwas klirrte, eine Schachtel voller Stifte, Büroklammern und anderem Kleinkram viel zu Boden. Die Schritte entfernten sich rasch.
Anne spurtete die Kellertreppe hoch und riss die Haustür auf. Es war ruhig draußen, aber dann zerriss das Aufheulen eines Motors die Stille. Anne stürmte zur Gartentür und versuchte, auf der Straße etwas zu erkennen. War das nicht ein rotes Motorrad, das dort vorne um die Ecke bog?
Ganz langsam hatte er ausgeatmet. Und wieder ein. Sich fast verschluckt an der Luft. Wie ein Verbrecher hatte er hinter der Tür gekauert, dort, wo tatsächlich die Heizungsrohre waren. Er hatte erst die Haustür klappern gehört, dann ihre Schritte die Treppe hinunter. Er hatte sich versteckt, bevor er darüber nachdenken konnte, ob er das wollte. Aber jetzt, gerade jetzt, da konnte er ihr einfach nicht gegenübertreten. Was hätte er sagen sollen? Wo er doch selbst nichts wusste. Sie in den Arm nehmen? Wo er es doch war, der Trost brauchte. Ihr alles erklären? Er konnte sich selbst nichts erklären. Er hoffte inständig, dass sie heute mit ihm reden würde. Nachher würde er wieder zu ihr fahren ins Krankenhaus. Gestern hatte er sie zum ersten Mal offen konfrontiert. Es war so schwer gewesen, die Sätze richtig zu formulieren. Vielleicht war sie wirklich ahnungslos? Nein, ihr Blick hatte ihm sofort gesagt, dass er auf der richtigen Fährte war. Eigentlich benötigte er ihre Bestätigung gar nicht. Aber er wollte ganz sicher sein. Er wollte wissen, ob sein Hass begründet war, dieser unterschwellige, unaussprechliche Hass, den er schon immer gespürt hatte. Für den er sich sein Leben lang geschämt hatte, weil er ihn nicht begründen konnte. Und der trotzdem da war.
Oben war es ruhig geworden. Sicher waren sie gegangen. Ob sie noch einmal zurückkehren würde? Ihn hier suchen? Er schwor sich, sobald er sicher sein konnte, würde er sie anrufen. Er würde mit ihr sprechen. Das Versteckspiel musste ein Ende haben. Er wollte nicht für seine Sünden büßen und ihre Liebe aufs Spiel setzen. Der Gang zu ihr würde sein schwerster sein. Aber er musste ihn gehen. Sie hatte es verdient.
»Möchtest du meinen Concealer ausprobieren?«, fragte Marita, als Anne ins Bad ging.
»Warum? Hab ich’s nötig? Auf dem Konzert ist es doch sicher dunkel – da sieht man meine Pickel eh nicht!« Irgendwie machte die Tante sie aggressiv. Wollte sich bei ihr einschleimen, tat auf beste Freundin.
»Quatsch, Entschuldigung«, und wieder dieses herzwärmenwollende Lächeln, das Anne gerade völlig gekünstelt vorkam. »Ich tausche gerne mal mit meinen Freundinnen Kosmetikkram. Da kommt man auf Sachen, von denen man nicht denken würde, dass man sie tatsächlich gut gebrauchen kann.«
»Sorry, ich hab’s nicht so mit Kosmetik«, sagte Anne eine Spur sanfter und schloss die Tür. Na, das würde ja was geben auf dem Konzert. Hoffentlich war es so laut, dass man sich nicht unterhalten konnte.
Natürlich fuhr Johann die beiden zur Konzerthalle, die unweit des Kinos auf der anderen Seite des Stadtparks lag. Mit
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