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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Broemme
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hinausgestürmt. Seitdem fuhr er herum. Die ganze Zeit mit dem Gedanken, er könne nicht zurück. Er wolle nicht. Aber vielleicht musste er einfach. Sie hatte das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Und er auch.
    Als er sich der Stadt näherte, hatte er noch immer keinen Plan. Ihm fiel der Schlüssel in seiner Tasche ein. Zumindest hatte er einen Ort, wo er unterkriechen konnte.
    Samstag, 12.06.
    Alle Schleusen sind geöffnet, seit ich versucht habe, ihn umzubringen. Die Bilder drohen mich zu erschlagen, sie verfolgen mich, sind an jede Wand gemalt, jede Nachrichtensprecherin im Fernsehen erzählt mir meine Geschichte in höhnischen Worten, selbst die Lehrer in der Schule sagen mir, dass ich ein kleines, mieses Arschloch bin, dass ich endlich mit dem Jammern aufhören und mich zusammenreißen soll. Nicht einmal meine besten Freunde, abgefüllt in Literflaschen, aufbewahrt in kleinen Döschen, versteckt zwischen den Tabakkrümeln, beschützen mich noch. Wohin ich auch blicke, sehe ich mich dort liegen. Ich bin zehn Jahre, elf Jahre, zwölf Jahre. Immer ist es Nacht, immer fällt höchstens ein schmaler Lichtstreifen unter der Tür hindurch. Draußen sprechen die Menschen in fremden Zungen, ich verstehe niemanden, ich kenne niemanden, sie machen mir Angst und dann kommt er und wird zu einem Monstrum mit geifernden Köpfen und Fingern, die an jeden Ort gelangen können, zu dem sie möchten, und ich kann sie nicht aufhalten und nicht nur das Monstrum, auch meine Angst verschlingt mich. Und dann steigt auch der schrecklichste aller Tage aus den tiefsten Tiefen meines Unterbewussten strahlend hell nach oben ans Licht und ich höre jedes Geräusch, sehe jeden Schemen, als passiere alles genau JETZT. Wir sind irgendwo in Frankreich, im Süden, es ist heiß und stickig. Unser erster Auftritt liegt hinter uns und diesmal, denke ich, diesmal wird alles gut gehen. Denn ich bin nicht allein. Kein Einzelzimmer. Es ging nicht anders. Jemand ist bei mir, jemand, der mich beschützt und den ich beschützen muss. Mein kleiner Bruder liegt auf der anderen Seite des Zimmers in seinem Bett und er schläft tief und fest nach den Strapazen der Anreise und des Auftritts und ich fühle mich so sicher wie nie zuvor. Fast schlafe ich ein. Aber dann verdunkelt sich der Lichtstreifen, der bis eben noch so makellos unter der Türschwelle schwebte. Er verdunkelt sich und das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Die Türklinke knackt, der Lichtschein wird groß und mein Körper schafft es trotz seiner Starre zu zittern und zu beben. Die Gestalt schließt die Tür, doch es ist nicht stockfinster im Zimmer, durch die Vorhänge fällt das matte Licht einer Straßenlaterne. Die Gestalt geht an das Bett meines Bruders. Sie beugt sich darüber, streicht ihm mit der Hand über den Kopf. Mein Herz zieht sich zusammen, wird an den Rändern pelzig. Er darf nicht… es kann nicht sein… Wenn er meinen Bruder anfasst, dann… Da richtet sich die Gestalt auf und kommt zu mir. Setzt sich. Mein Herz gefriert als Erstes. Mein ganzer Körper ist aus Eis. Aus schweißnassem Eis. Er flüstert noch leiser als sonst. Jedes Wort zerreißt die Stille. Für immer.
    Als er geht und der Lichtschein aus dem Flur für einen kurzen Moment das Zimmer erhellt, sehe ich aus dem gegenüberliegenden Bett die Augen meines Bruders leuchten, weit aufgerissen und riesig wie die eines Makis. Auch er zittert, feucht und strähnig stehen die Haare von seinem zehnjährigen Kopf ab. Er öffnet den Mund, er schließt ihn, er sinkt in sein Bett und dann sehe ich nur noch seinen zuckenden Rücken. Ich habe es geschafft. Ich habe ihn beschützt. Auch wenn ich dafür meine Seele abgeben musste.

12. Kapitel
    Daran, dass sie am Nachmittag gemeinsam irgendetwas »Nettes« hatten unternehmen wollen, erinnerte sich plötzlich niemand mehr. Anne war es egal. Sie fügte sich wortlos, hatte den Eindruck, weder Johann noch Marita bemerkten ihre Sprachlosigkeit, und folgte den beiden ins Haus der Großmutter. Johann hatte vor, die ersten Dinge einzupacken, die er als Andenken behalten wollte. Die beiden Frauen könnten gut zur Hand gehen, fand er.
    Anne war es schleierhaft, wie ihr Vater durch das Haus gehen konnte, ohne das Zimmer auch nur in Ansätzen zu erwähnen. Als Marita und Johann im oberen Stockwerk beschäftigt waren, ging sie in den kühlen Keller. Die Tür zum Zimmer war nicht abgeschlossen. Cornelius war hier drin gewesen, als er den »Stoppt-Strauss«-Button gefunden hatte, fiel ihr ein. Er

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