Frostherz
werden.
Gierig atmete sie die frische Luft ein, als sie endlich aus der Konzerthalle hinauskam. Es musste geregnet haben, die Straße schimmerte feucht und ihr wurde in der dünnen Bluse kalt. Sie griff nach ihrem Handy, noch immer auf der obersten Stufe der Treppen stehend, die zum Platz vor der Halle hinunterführten. Aber bevor sie auch nur eine Nummer eingetippt hatte, schubste sie jemand von der Stufe hinunter. Sie streckte instinktiv die Arme aus, das Handy flog fort, sie sah die übrigen Stufen auf sich zukommen, alles geschah ganz langsam, sie ahnte, wohin sie kippen würde, merkte, dass sie sich täuschte, wunderte sich, warum sie noch nicht aufschlug, und in letzter Sekunde konnte sie sich irgendwie abfangen und taumelte die Stufen nach unten.
»Tschuldigung«, sagte eine Stimme in extrem boshaftem Ton. Sie drehte sich langsam um. Ami kam hüftwackelnd die Treppe hinunter, direkt auf sie zu. Annes Herz schlug wilder als der Drummer der Band gerade eben auf sein Schlagzeug eingedroschen hatte.
Sie wollte sie anschreien, wollte »spinnst du?« sagen, aber in dem Moment kam Marita aus der Halle gestürmt, Brunner im Schlepptau, der seinerseits schrie: »Warte, ich muss mit dir reden!« Und als sie nicht stehen blieb, setzte er ein »Schlampe« hinterher und packte sie am Oberarm. Anne beschleunigte ihre Schritte, musste ihr Handy aufsammeln, wollte endlich Johann anrufen, wollte einen ruhigen Platz. Aber Ami hatte längst aufgeholt.
»Das war eine Warnung!«, zischte sie. »Wenn du Cornelius nicht in Ruhe lässt, dann kassierst du eine Abreibung, die du dein Leben lang nicht vergisst, das verspreche ich dir.« Wäre Anne das Mädchen, das sie gerne sein wollte, hätte sie laut losgelacht. Das klang ja wie aus einer dämlichen Daily Soap. Immerhin schien ihr Gesicht ihre Gedanken gespiegelt zu haben.
»Glaub bloß nicht, dass du mich nicht ernst nehmen musst«, schrie Ami direkt an ihrem Ohr. »Er liebt mich! Das weiß ich! Hör auf dazwischenzufunken.« Anne versuchte, in das Buswartehäuschen zu gelangen, das direkt vor der Halle aufragte. Ami hielt sie am Ärmel fest, zerrte an ihr. Da nahm sie hinter dem völlig durchgeknallten Mädchen Brunner wahr, der die Hand erhoben hatte und ausholen wollte. Sie musste Marita helfen! Sie drehte sich zu Ami, packte sie an den Oberarmen, die sie beinahe ganz mit den Fingern umschließen konnte, und versetzte ihr einen Stoß. Sie wollte sich schon umdrehen, wollte zu Marita rennen, sie wegziehen von Brunner. Aber Ami knickte auf ihren hohen Schuhen einfach nach hinten weg, ein Fuß ragte schon nach oben, sie würde auf die Straße fallen, dorthin, wo die Autos fuhren. Anne stolperte beinahe selbst, weil sie zwei entgegengesetzte Richtungen gleichzeitig nehmen wollte, und merkte, dass sie sich nicht entscheiden konnte. Doch plötzlich verlangsamte sich alles zu Zeitlupentempo: Sie blickte einen Moment hoch, sah hinter Ami einen Motorradfahrer heransausen, ein rotes Motorrad, das immer größer wurde, monstermäßig, das auf sie beide zuhielt, auf sie selbst und Ami, das Licht des Scheinwerfers blendete sie, sie konnte die Gestalt auf dem Motorrad nicht erkennen und sie hatte den Gedanken noch nicht beendet, als ihr schon klar war, dass Ami nicht mehr ausweichen konnte. Anne machte einen Sprung nach vorne, wollte Ami zur Seite ziehen, wollte ihr die Hand reichen oder sie wegstoßen, sie aus der Gefahrenzone bringen. Es tat einen erstaunlich leisen Schlag, als das Motorrad das dünne Mädchen traf, das sich gerade erst aufgerappelt hatte. Nur der Schrei von Ami wurde lauter und lauter, lauter als alles, was Anne je gehört hatte, und dann flog etwas durch die Luft, Haare, Körperteile, Schuhe, eine Tasche, ein Hupton war zu hören, Bremsen quietschten, Anne fand sich an der Bordsteinkante kniend wieder, Autotüren wurden aufgerissen und das Letzte, was sie wahrnahm, war das Aufheulen eines Motorradmotors. Dann Stille.
Es musste die Hand von Marita sein, die auf ihrer Schulter lag. Etwas Blaues blinkte, Menschen mit orangefarbenen Westen wuselten durch die Gegend. Woher die Decke um ihren Körper herum kam, wusste sie nicht. Ihr Hintern fühlte sich nass an. Kein Wunder, sie saß auf der Bordsteinkante. Der nächtliche Himmel war inzwischen sternenklar, die Erinnerung an den Regen schwebte als zarter Duft vorbei. Das Knallen der Tür, als Ami auf einer Trage in den Rettungswagen geschoben wurde, fiel genau auf die Sekunde, in der ein Auto neben Anne und Marita anhielt.
Weitere Kostenlose Bücher