Frostherz
jünger. Sie nickten Anne, Johann und ihren Begleitern kurz zu, dann stellten sie sich so auf, dass die kleine Gruppe einen Halbkreis bildete. Sie wussten, wo der Wagen halten würde. Sie wussten, wo er aussteigen würde, so, dass er sie nicht übersehen konnte. Sie würden schweigen, keiner würde ein Wort sagen. Das war auch nicht nötig. Auf den Pappstreifen, die sie sich vor die Brust hielten, standen fünf Worte. Fünf Worte, die ihre ganze Geschichte erzählten, ihr persönliches Drama. »Du hast mein Leben zerstört« stand auf jedem dieser Streifen. Anne und Johann hatten ein Foto des jungen Andreas groß abziehen lassen und aufgeklebt. »Du hast sein Leben zerstört« hieß der Spruch bei ihnen. Hoffentlich würden der Wind und der Schnee die Schrift nicht verwischen.
Hermann Rudolf Rosen, geborener Koth, hatte alles gestanden. Er erhoffte sich davon ein milderes Urteil. Er war nicht angeklagt, weil er zwischen 1976 und 1983 in seiner Funktion als Chorleiter des Cäcilien-Knabenchores mindestens zehn Jungen sexuell missbraucht hatte. Diese Taten waren verjährt. Auch welcher Vergehen er sich in Thailand schuldig gemacht hatte, konnte in Deutschland nicht verhandelt werden. Aber die Anklagepunkte ergaben trotzdem eine erschütternd lange Liste: Rosen wurde der unterlassenen Hilfeleistung beschuldigt, weil er für die Rentnerin Annemarie Jänisch nach ihrem Herzinfarkt keinen Notarzt herbeigerufen hatte. Auf den Glassplittern im Abfalleimer der Frau Jänisch hatte man seine Fingerabdrücke entdeckt. Er wurde des Hausfriedensbruchs in das Anwesen der Familie Jänisch angeklagt. Des Weiteren, und das wog sicher am schwersten, des Tötungsversuches an Amanda – Ami – Reichenberg mit anschließender Fahrerflucht sowie der Freiheitsberaubung und Körperverletzung von Anne Jänisch. Allein diese Anklagepunkte könnten für zehn Jahre Gefängnis genügen.
Trotzdem war Anne nervös. Und Cornelius neben ihr umso mehr. Er hatte seinen Vater seit jenem grauenhaften Tag im Juni nicht mehr gesehen. Und während Anne endlich die Chance gehabt hatte, sich mit ihrem Vater auszusprechen, die Ereignisse und ihr Leben der letzten Jahre aufzuarbeiten, hatte Cornelius auf die Frage nach dem ›Warum?‹ keine Antwort erhalten. Er hatte wieder und wieder mit Anne, Johann, mit Marita und auch mit seiner Mutter über diesen Hermann Rosen diskutiert, aber verstanden hatte er noch immer nicht. Vielleicht konnte ihm seine Therapeutin dabei helfen. Anne wusste, dass ihre Liebe zu ihm ihn diese schrecklichen Monate einigermaßen hatte überstehen lassen, und er dankte es ihr, indem er sich ganz auf die Beziehung zu ihr eingelassen hatte.
Eine Woche nach ihrem 18. Geburtstag im Oktober waren Anne und Cornelius gemeinsam in das Haus der Großmutter gezogen. Johann war am Anfang täglich, manchmal mehrmals, vorbeigekommen, um nach dem Rechten zu sehen, aber inzwischen genügten ihm Telefonate. Was sicher auch Maritas Einfluss zu verdanken war. Sie hatte es geschafft, aus Johann, zumindest in Ansätzen, den Mann zu machen, der er immer hätte sein können. Einen liebevollen Menschen, der sich gerne um seine Angehörigen kümmerte, ohne dabei von Panik und Angstzuständen geleitet zu werden. Außerdem hatte er sich endlich erlöst gefühlt, erlöst von einer Schuld, die ihn all die Jahre gequält hatte. Dabei hatte die Schuld gar nicht ihm gehört. Schuldig war allein Hermann Rosen, das hatte er endlich begriffen. Mit Anne hatte er gemeinsam das Tagebuch seines Bruders gelesen und hatte ihr seine Erinnerung an die dunkelste Stunde seines Lebens preisgegeben. Damals, als er auf seiner ersten Chorreise in Frankreich dabei war und miterleben musste, wie sich Rosen an seinem Bruder verging. Wie er im Dunkeln lag, die Geräusche hörte, Stöhnen und Wimmern vor allem, wie er, gerade zehn Jahre alt, nicht verstand, was da passierte, und nur das Gefühl hatte, es sei etwas Schlimmes, als verschlinge gerade ein hungriger Wolf seinen großen Bruder und er lag daneben, wie gelähmt, unfähig sich zu rühren, unfähig zu helfen. Nie hatte er mit dem Bruder darüber geredet. Nie wieder hatte er ihm in die Augen schauen können. Die Scham war unermesslich. Von diesem Moment an hatte sich Johann die Schuld daran gegeben, dass er den großen Bruder nicht gerettet hatte. Sein weiteres Leben verstand er als Sühne für diese unterlassene Hilfeleistung: dass sein Bruder sich umgebracht hatte – seine Schuld. Dass seine Mutter nicht mehr für ihn da war
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