Frostkuss
eingesetzt, falls der jemals wirklich stattgefunden hatte. Ich schnaubte. Wohl eher nicht.
Ich legte den Kopf schief und versuchte herauszufinden, warum dieses Schwert so verdammt interessant war. Dann ging mir auf, dass der Knauf fast aussah wie … ein Gesicht. Als wäre irgendwie ein halbes männliches Gesicht in das Metall eingearbeitet worden. Es gab einen Strich als Mund, eine Kerbe in Form einer Nase, die geschwungene Linie eines Ohrs und selbst eine runde Ausbuchtung, die wirkte, als wäre sie ein Auge. Eigenartig. Aber das Gesicht war nicht hässlich. Es wirkte fast … lebendig .
Ich entdeckte auch Worte auf dem Schwert. Sie glitzerten auf der Klinge, direkt über dem Knauf, als wären sie dort in das Metall geritzt worden. Ich kniff die Augen zusammen, konnte sie aber nicht ganz entziffern. V-i-c … Vic irgendwas , dachte ich, während ich mich weit genug vorlehnte, um einen Nasenabdruck auf dem sauberen Glas zu hinterlassen …
BUMM!
Der plötzliche Lärm erschreckte mich. Ich sprang zurück und drückte mich mit weit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen gegen ein Bücherregal. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Was zur Hölle war das?
Ich hielt mich selbst nicht gerade für einen Angsthasen, und ich war auf keinen Fall eines von diesen erbärmlichen Mädchen-Mädchen, die Angst vor ihrem eigenen Schatten haben. Aber meine Mom war Ermittlungsbeamtin gewesen. Sie hatte mir massenweise Horrorgeschichten über Leute erzählt, die überfallen wurden oder Schlimmeres. Und die Bibliothek der Altertümer war nicht gerade ein warmer, freundlicher Ort wie ein Park an einem Sommerabend. In Mythos war nichts warm und freundlich.
Jetzt, da ich darüber nachdachte, ging mir auf, dass ringsum überhaupt keine Geräusche zu hören gewesen waren, während ich die Bücher zurückgestellt hatte. Kein Rascheln von Kleidung, nichts, was irgendwie vermuten ließ, dass sich in der gesamten Bibliothek außer mir noch jemand aufhielt …
Etwas Kaltes, Hartes grub sich in meine Handfläche. Ich sah nach unten und stellte fest, dass ich das Schloss der Glasvitrine umklammerte. Ich war nur eine Sekunde davon entfernt, den Schaukasten zu öffnen und das Schwert darin zu packen.
Aber viel seltsamer war, dass das Schwert mich anstarrte.
Die Metallschicht über der Wölbung auf dem Griff war nach oben geglitten und enthüllte ein fahles Auge, das mich mit kaltem und ruhigem Blick beobachtete. Es hatte eine seltsame Farbe, nicht ganz Purpur, aber auch nicht wirklich Grau …
Dann schaltete sich mein Gehirn wieder ein und erinnerte mich daran, dass das alles superhyperunheimlich war. Ich kreischte auf, stolperte rückwärts, knallte mit der Schulter gegen ein Regal und sog vor Schmerz zischend die Luft durch die Zähne.
Aber der Schmerz vertrieb auch ein wenig meine Panik. Tief in mir wusste ich, dass meine Phantasie mir gerade einen Streich gespielt hatte. Schwerter hatten keine Augen, nicht mal an einem so verrückten Ort wie der Mythos Academy. Und sie starrten auf keinen Fall Leute an. Besonders nicht jemanden wie mich, dieses unwichtige, seltsame Gypsymädchen, das Dinge sah.
Und dieser Lärm? Wahrscheinlich war einfach ein Bücherstapel umgefallen, den jemand schief aufgeschichtet hatte. Wahrscheinlich hatte derjenige es sogar absichtlich getan, um jeden zu erschrecken, der so spät noch in der Bibliothek herumgeisterte. So etwas war schon früher passiert – besonders mir.
Ich blieb noch eine Sekunde stehen, um mein rasendes Herz zu beruhigen, dann löste ich mich vom Regal. Ich dachte darüber nach, mir einfach den Wagen zu schnappen und ihn zurück zum Ausleihschalter zu zerren, ob das Rad nun lose war oder nicht. Aber vorher musste ich noch einen Blick auf das Schwert werfen. Ich musste mich davon überzeugen, dass ich nicht verrückt wurde. Dass ich nicht tatsächlich anfing, das ganze Zeug zu glauben, das Professor Metis uns in Mythengeschichte auftischte. Böse Götter und uralte Krieger und Chaos und das Ende der Welt und blablabla.
Also riskierte ich einen schnellen Blick über die Schulter. Die Wölbung, die ich für ein Auge gehalten hatte, war einfach ein Knubbel auf dem Knauf. Vollkommen bedeckt, vollkommen silbern, vollkommen normal. Sonst nichts. Und sicherlich starrte sie mich nicht an.
Ich atmete erleichtert auf. Okay. Gwen wird noch nicht wahnsinnig. Schön zu wissen.
Ich schnappte mir den Karren und schob ihn zurück Richtung Tresen. Zum Teufel mit Nickamedes und seiner schlechten Laune.
Weitere Kostenlose Bücher