Frostkuss
Es reichte mir mit unheimlichen Schwertern und seltsamen Geräuschen. Ich wollte hier weg. Jetzt.
Ich trat zwischen den Regalen hervor und umrundete das letzte. Ich hatte schon die Hälfte der Wegstrecke zum Tresen zurückgelegt, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ich schaute nach links.
Dann sah ich sie.
Jasmine Ashton.
Die blonde Walküre lag auf dem Rücken vor der Vitrine, die Nickamedes mir gezeigt hatte. Diejenige mit Lokis angeblicher Schale der Tränen.
Nur dass das Glas zerschmettert worden war und in der Vitrine keine Schale mehr stand.
Außerdem hatte jemand oder etwas Jasmines Kehle von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt.
Ich erstarrte, weil ich es einfach nicht verstand. Dann blinzelte ich ein paarmal, aber das Bild blieb dasselbe. Zerbrochene Vitrine. Gestohlene Schale. Ein Mädchen mit einem großen, blutigen Schnitt quer durch den hellen Hals.
Ich blieb noch einen Moment schockiert und wie vor den Kopf geschlagen stehen, bevor mein Gehirn die Arbeit wieder aufnahm. Ich schubste den Karren aus dem Weg und rannte auf Jasmine zu. Mir rutschte ein Fuß weg, und ich streckte eine Hand aus, um mich abzufangen. Sie kam in etwas Nassem, Klebrigem auf, und ich zuckte zusammen. Ich hob die Hand und stellte fest, dass sie mit Blut überzogen war – Jasmines Blut.
Es war überall. Unter der zerschlagenen Vitrine. Daneben. In Spritzern auf den Holztischen. Pfützen aus dem Blut der Walküre bedeckten den Boden wie rotes Wasser, das niemand aufgewischt hatte.
»O Scheiße!«
Ich atmete zu schnell, also zwang ich mich, tief durchzuatmen, wie meine Mutter es mir immer befohlen hatte, wenn ich früher in Panik geraten war. Wenn ich mich in einer schlimmen, schlimmen Situation befunden hatte. Nach einigen Sekunden fühlte ich mich besser. Zumindest gut genug, um mir langsam zwischen den Pfützen hindurch einen Weg zu Jasmine zu suchen.
Hellblondes Haar. Blaue Augen. Schönes Gesicht. Designerklamotten. Die Walküre sah aus wie immer – bis auf den Schnitt über ihrer Kehle und das Messer, das neben ihr auf dem Boden lag. Ein langer, gebogener Dolch aus Gold mit einem gigantischen Rubin im Knauf. Das Licht glitzerte auf dem Juwel, als wäre er ein riesiges rotes Auge, das mich beobachtete. Aus irgendeinem Grund war der Dolch das Einzige, was nicht von Blut bedeckt war. Bizarr.
Ich ging neben Jasmine in die Hocke und versuchte nicht die schreckliche Wunde an ihrem Hals anzustarren. Ich wusste nicht, ob sie noch atmete oder nicht, und es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Ich musste sie berühren.
Aber das wollte ich absolut nicht tun.
So gerne ich auch die Geheimnisse anderer Leute erfuhr, ich wusste genau, dass meine Gypsygabe in dem Moment aufblitzen würde, in dem ich die Haut der Walküre berührte. Dann würde ich genau das sehen und fühlen und erleben, was Jasmine durchlebt hatte, als man ihr die Kehle aufgeschlitzt hatte. Es würde furchtbar werden, genauso furchtbar wie all die schrecklichen Dinge zu sehen, die Paiges Stiefvater ihr angetan hatte. Vielleicht sogar noch schlimmer.
Aber ich kam nicht darum herum. Ich musste herausfinden, ob Jasmine noch lebte. Ich hatte im letzten Jahr auf meiner alten Schule Herz-Lungen-Massage gelernt, also konnte ich ihr vielleicht helfen – oder zumindest konnte ich loslaufen und Hilfe holen. Ich musste es auf jeden Fall versuchen. Ich konnte nicht einfach nur hier herumstehen und nichts tun, nicht wenn Jasmine so – so kaputt aussah.
Also ging ich in die Hocke und streckte meine zitternde Hand in Richtung ihres Halses. Meine Finger näherten sich ihrer bleichen Haut, bevor sie schließlich den letzten Abstand überbrückten und auf Widerstand trafen.
Ich schloss die Augen und biss mir auf die Lippe, weil ich erwartete, von Gefühlen und Bildern übermannt zu werden. Ich erwartete, die Angst und die Schmerzen zu spüren, die Jasmine durchlitten hatte. Erwartete, von all den entsetzlichen Empfindungen überwältigt zu werden und einfach zu schreien …
Ich fühlte nichts.
Keine Angst, keine Panik und besonders keine Schmerzen. Nichts.
Ich empfing nicht das kleinste Aufflackern von Gefühlen in Jasmines Körper. Keine Schwingungen, keine Visionsblitze, nichts. Ich runzelte die Stirn und drückte die Finger fester an ihren Hals. Dann legte ich die gesamte Handfläche direkt über den Schnitt an ihrer Kehle.
Immer noch nichts.
Seltsam. Wirklich seltsam. Ich sah immer etwas, fühlte immer etwas, besonders wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher