Frostkuss
jemanden wirklich berührte – in diesem Fall jemanden, dessen Kehle brutal aufgeschlitzt worden war …
Aus dem Augenwinkel sah ich eine schnelle, verstohlene Bewegung. Aber bevor ich mich umdrehen konnte, um herauszufinden, was es war, traf etwas Kaltes, Hartes meine Schläfe. Heller, weißer Schmerz nahm mir die Sicht, dann verschlang mich die Dunkelheit.
Das Erste, was ich wahrnahm, waren die Stimmen. Leise, gleichmäßige Stimmen, die sich in meinen Schädel gruben wie das Jaulen eines Zahnarztbohrers. Sie sprachen immer weiter, eine nach der anderen. Und jede einzelne jagte Schmerzen durch meinen Kopf.
»… offensichtlich hinter der Schale her. Jasmine war einfach im Weg …«
»… warum wurde sie umgebracht? Das ergibt keinen Sinn …«
»… Schnitter müssen nicht den Gesetzen der Logik folgen …«
»Schnauze«, murmelte ich.
Die Stimmen verstummten, und ich glitt langsam zurück in die ruhige Dunkelheit …
»Gwen?«, murmelte eine vertraute Stimme.
»Mom?«, murmelte ich zurück.
Eine Hand strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Nein, Gwen. Nicht deine Mom. Könntest du bitte die Augen öffnen? Tu es für mich.«
Dann erinnerte ich mich. Meine Mom war tot. Von irgendeinem betrunkenen Autofahrer umgebracht. Und ich saß hier bei Krieger-Freaks & Co. fest. Mein Herz zog sich zusammen und tat für einen Moment sogar mehr weh als mein Kopf. Eine heiße Träne rann mir aus dem Augenwinkel, bevor ich sie aufhalten konnte. Ich vermisste meine Mom so sehr. Ich vermisste alles so sehr. Meine alte Schule, meine alten Freunde und alles andere, was ich verloren hatte, nur weil ich die Geheimnisse eines anderen Mädchens hatte wissen wollen …
»Gwen?«, fragte die Stimme wieder, diesmal drängender. »Komm schon. Mach bitte die Augen auf.«
Mein Kopf tat immer noch weh, aber nach ein paar Sekunden schaffte ich es, die Augen vorsichtig zu öffnen.
Schwarzes Haar, bronzefarbene Haut, grüne Augen, silberne Brille. Professor Metis’ Gesicht schwebte verschwommen vor mir, und ich musste ein paarmal blinzeln, bevor das Bild schärfer wurde.
»Professor Metis? Was ist los?«, fragte ich und versuchte mich aufzusetzen.
Metis schob eine Hand unter meinen Rücken und half mir bei meinen Bemühungen. Mein Hirn schien noch für einen kurzen Moment in meinem Kopf zu schwimmen, bevor es seinen Platz fand und die Welt endlich aufhörte, sich zu drehen.
Zu meiner Überraschung war ich immer noch in der Bibliothek der Altertümer, obwohl ich inzwischen auf einem der Holztische lag und nicht mehr auf dem kalten Marmorboden.
Und inzwischen waren auch noch andere Leute hinzugekommen. Wie zum Beispiel Trainer Ajax, der große, kräftige, tätowierte Bikerkerl, der den Sportunterricht betreute und alle trainierte. Ajax stand ein paar Meter entfernt und unterhielt sich mit Nickamedes. Seine tiefschwarze Haut schimmerte im goldenen Licht der Bibliothekslampen, und seine Muskeln wölbten sich bei jeder Bewegung deutlich sichtbar unter seiner Haut. Er sah aus wie die Art von Mann, die mit den Händen Betonklötze zerschlagen konnte.
In diesem Moment drehten sich die beiden Männer um und kamen zu uns herüber, als hätte mein Blick sie gestört. Beide nickten Professor Metis zu, und sie nickte zurück.
»Gwen«, sagte Metis und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich bin froh, dass du dich besser fühlst.«
»Professor? Was tun Sie hier?«, fragte ich immer noch verwirrt.
Metis deutete auf die beiden Männer. »Ajax, Nickamedes und ich bilden den Sicherheitsrat der Schule. Wir sind für die Sicherheit aller in Mythos verantwortlich und sollen Schüler und Lehrkörper gleichermaßen vor Schnittern des Chaos und anderen Bedrohungen schützen. Also müssen wir unbedingt erfahren, was heute Abend hier passiert ist. Glaubst du, du könntest mir erzählen, was du gesehen hast? Es ist wirklich wichtig, Gwen. Wir wollen nicht, dass noch jemand … verletzt wird.«
Verletzt. Na ja, das war wahrscheinlich eine höfliche Umschreibung dessen, was Jasmine zugestoßen war, um nicht die hässliche Wahrheit aussprechen zu müssen – dass jemand sie auf brutalste Art angegriffen hatte.
Ich atmete tief durch und erzählte den dreien, wie ich in der Bibliothek gearbeitet hatte. Wie ich gerade die letzten Bücher in die Regale gestellt hatte, als ich den schrecklichen Lärm gehört hatte. Wie ich gedacht hatte, es seien einfach ein paar Bücher umgefallen. Nur um dann zwischen den Regalen hervorzukommen und Jasmine ausgestreckt
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